Prof. Dr. André Casal Kulzer
Wir brauchen mehr Diversität und gesamtheitliche Lebenszyklusanalysen
Antriebsexperte plädiert für eine differenzierte Analyse der verschiedenen Technologie-Optionen
Wie lässt sich der Mobilitätssektor möglichst schnell und effizient defossilisieren? Bei der Diskussion dieser Frage wünscht sich Prof. Dr. André Casal Kulzer, Direktor des Instituts für Fahrzeugtechnik Stuttgart (IFS), Universität Stuttgart, mehr Offenheit: „Ohne Diversität keine nachhaltige Zukunft für unsere Automobilwirtschaft – wir benötigen Vielfalt hinsichtlich der erneuerbaren Energieträger, der Rohstoffe, und insbesondere mit Blick auf die Antriebstechnologien.“ Über seine Ideen für eine diverse mobile Zukunft wird Prof Dr. Kulzer beim 12. Internationalen Motorenkongress im Rahmen einer Keynote sprechen.
Nach über 20 Jahren Berufserfahrung in der Automobilindustrie, sowohl bei einem großen Zulieferer (Bosch) als auch einem OEM (Porsche), hat Prof. Dr. Kulzer vor drei Jahren an die Hochschule gefunden. „Mir geht es zum einen darum, beruflichen Nachwuchs für Antriebstechnologien zu begeistern, und zum anderen die Industrie bei Powertrain-Solutions für eine nachhaltige Mobilität aus wissenschaftlicher Sicht zu begleiten. Themen wie Kreislaufwirtschaft und Lebenszyklusanalysen haben dabei wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie momentan erhalten, insbesondere in der Gesetzgebung.“
Vielfalt der Antriebskonzepte und die Rolle von E-Fuels
Seine Kernthese lautet: Die Zukunft ist elektrifiziert – und wird ergänzt sein von Energieträgern, die strom- oder wasserstoffbasiert sind, sei es direkt genutzter Wasserstoff oder daraus synthetisierte Kraftstoffe. „Gegenüber meinen Studenten spreche ich dabei stets von molekularen Energieträgern. Dazu zählen für mich alle Formen chemisch gebundener Energie, ob E-Fuels in Form von Wasserstoff, Methan, Methanol, normkompatible Kraftstoffe, etc.“
Allein auf batterieelektrische Fahrzeuge zu setzen, greife indes zu kurz. „Eine große Variation von Technologien ist notwendig, mit anwendungsspezifisch unterschiedlichen Elektrifizierungsgraden. Um schnell zu defossilisieren, sollten wir Elektrifizierung und Hybridisierung in allen Formen nutzen. So wie ein Brennstoffzellenfahrzeug elektrifiziert ist, gehören ebenso E-Fuels für Verbrennungskraftmaschinen aus meiner Sicht zu einem zukunftsweisenden Mobilitätsmix dazu.“
Die Fakten sprechen dabei für sich, so Prof. Dr. Kulzer: „Wir können nicht einfach den Schalter umlegen auf 100% batterieelektrische Antriebe – bei allem Reiz, den ihr Wirkungsgrad hat, selbst wenn wir es wollten.“ Eine Kernherausforderung liegt nach seinen Worten darin, den in Zukunft zu erwartenden Überschuss an erneuerbaren Energien effektiv speichern zu können, etwa über die Elektrolyse von Wasserstoff oder E-Fuels. E-Fuels werden so einen wichtigen Beitrag zur Defossilisierung leisten – „ob auch in Deutschland und Europa, hängt von der Politik ab.“ Während Länder wie China, Brasilien, die Golfstaaten oder Indien bereits ihre E-Fuels-Produktion massiv ausbauen oder Importe langfristig sichern, fehle es aktuell noch an einer klaren europäischen Position. „Wenn wir E-Fuels nicht als potenziell CO2-neutrale Energieträger erschließen bzw. importieren und durch stabile gesetzliche Vorgaben nutzbar machen, werden es andere tun.“ Schließlich seien ohnehin global geeignete Lösungen gefragt, bei denen zusätzlich zum Klima- und Umweltschutz auch soziale Aspekte, wie der Zugang zu Mobilität, zu berücksichtigen sind.
Gesamten Lebenszyklus analysieren
Auf Seiten der Antriebstechnologien wiederum plädiert Prof. Dr. Kulzer für Nachhaltigkeitsanalysen, die den gesamten Lebenszyklus umfassen – und dafür, nicht nur darauf zu schauen, ob ein Auto einen Auspuff habe oder nicht. „Auch ein BEV liegt nicht per se bei null Gramm CO2. Neben der Energieseite sind die gesamte Rohstoffgewinnung, die Produktion, der Betrieb sowie am Ende des Lebenszyklus die Wiederverwendung im Sinne einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft zu betrachten. Wenn ein BEV mit Elektrizität mit schlechtem CO2-Footprint geladen wird, ist am Ende dem Klima gar nicht geholfen.“
Studien etwa des Expertenkreises Transformation der Automobilwirtschaft oder auch des VDI bestätigten diese Sichtweise eindeutig, so der Antriebsexperte weiter: „Eine Tank-to-Wheel-Betrachtung von CO2-Emissionen wird dem Umwelt- und Klimaschutz keineswegs gerecht. Die Erkenntnis ist auch in der Politik vorhanden, die Lösungsfindung hingegen ist komplex.“ Beispielhaft genannt seien die umfangreichen Nachweis- und Berichtspflichten zur Herkunft und CO2-Belastung von molekularen Energieträgern oder Batterien.
Mit Diversität zu mehr Klima- und Umweltschutz
Wie eine klimafreundliche Mobilität von morgen aussehen könnte, wird Prof. Dr. Kulzer beim Internationalen Motorenkongress skizzieren. Seine abschließende Einschätzung: „Einer der größten politischen Fehler ist, dass man bis jetzt noch keine Lebenszyklusanalysen in die Gesetzgebung eingebracht hat. Wir brauchen gemeinsame Anstrengungen für den Klima- und Umweltschutz und sollten dazu an allen verfügbaren Technologien arbeiten – nicht zuletzt, um die deutsche und europäische Automobilindustrie zu erhalten. Nur noch einen Energieträger nutzen zu wollen, erscheint als schönes Ideal. Für effektiven Klimaschutz und um global alle Anwendungsfälle und Bedürfnisse zu bedienen, werden wir viel mehr Diversität benötigen.“