Wir brauchen einen Neustart im öffentlichen Diskurs

Wandel der Automobilindustrie: Branchenkenner plädiert für Technologievielfalt und realistische Ziele auf dem Weg zur Defossilisierung
 

Wie kann die europäische und deutsche Automobilindustrie die derzeitige Krise bewältigen und den Wandel meistern? Diese Frage wird der 12. Internationale Motorenkongress intensiv diskutieren. Professor Dr.-Ing. Peter Gutzmer, wissenschaftlicher Leiter des Kongresses, skizziert im Interview die Lage und zeigt Lösungswege auf. Als langjähriges ehemaliges Vorstandsmitglied der Schaeffler AG, Lehrbeauftragter und Honorarprofessor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sowie Mitherausgeber der automobiltechnischen Fachzeitschriften ATZ und MTZ verfügt Prof. Gutzmer über umfassende Branchenexpertise.


Seit dem vergangenen Motorenkongress im Februar 2024 hat sich die Lage in der Automobilindustrie spürbar zugespitzt, Restrukturierungsmaßnahmen und der Abbau von Arbeitsplätzen dominieren die Schlagzeilen. Kommt dies überraschend oder war die Krise erwartbar?

Prof. Gutzmer: In der Tat haben sich die Rahmenbedingungen für die gesamte Industrie in den vergangenen Monaten spürbar verschlechtert, auch durch unerwartete geopolitische Einflüsse – eine Entwicklung, die sich im Grunde dennoch vorhersehen ließ. Leider weisen erst in jüngster Zeit viele Stimmen der Industrie und auch in der Politik darauf hin, dass wir eine Vielfalt der Technologien benötigen, um die Defossilisierung der Mobilität zügig voranzutreiben, und dass gleichzeitig die E-Mobilität die Chance benötigt, sich in einem realitätsnahen Zeitrahmen entwickeln zu können. Ein zu einseitiger Fokus auf Klimaaspekte hat den in anderen Regionen gepflegten ganzheitlichen Blick auf Abhängigkeiten und Sicherheitsaspekte in der gesamten Rohstoff- und Wertschöpfungskette von Energie und Mobilität vernachlässigt.

Stattdessen hat man eine einseitige Fokussierung allein auf batterieelektrische Antriebe mit unrealistischen Zielen und nicht einhaltbaren zeitlichen Vorgaben vorangetrieben. Leider auch ohne Berücksichtigung einer Lösung für die große existierende Bestandsflotte, welche die CO2-Emissionen im Verkehr noch lange bestimmt. Das hat wiederum zu einer enormen Polarisierung und zur Verunsicherung der Verbraucher geführt, die wir heute im Automobilmarkt erleben. Diese Ausschließlichkeit besorgt mich ungemein und ist ein wichtiger Punkt, den wir im Rahmen des Internationalen Motorenkongress 2025 thematisieren wollen: Es geht nicht darum, welcher Antrieb einem anderen womöglich überlegen ist – sondern darum, in einer nochmals anspruchsvolleren konjunkturellen Lage für Technologievielfalt zu plädieren. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der ganzheitlichen Betrachtung des Gesamtsystems Energieerzeugung, Energiebereitstellung und schließlich dem Energiewandler zu.
 

Wie stellen Sie sich diese Technologievielfalt konkret vor?

Prof. Gutzmer: Um das Ziel der Defossilisierung, in dem wir alle übereinstimmen, möglichst schnell und möglichst effektiv zu erreichen, wird es notwendig sein, mehrere technologische Wege gleichzeitig zu beschreiten. Dazu benötigen wir aus meiner Sicht unbedingt einen fairen Wettbewerb der Technologien – unter Einbeziehung der vorhandenen Fahrzeugflotten und Wertschöpfungsketten. Wir werden im globalen Maßstab weiterhin Energie in Molekülform transportieren müssen, also auch wind- und solarbasierte Energie.

Warum geben wir mit dem Verbrennungsmotor eine Technologie auf, in der die europäische und deutsche Industrie und Wissenschaft weltweit mit führend ist? Der thermische Energiewandler ist nicht das eigentliche Problem, sondern der fossile Kraftstoff. Zu Technologievielfalt gehört es insbesondere, CO2-neutralen Alternativen wie synthetischen Kraftstoffe aus Biomasse oder strombasierten E-Fuels eine echte Chance zu geben, parallel zum Aufbau der batterieelektrischen Mobilität.

International sind in dieser Hinsicht bereits viele Projekte im Gange: In den USA, aber auch in Asien werden synthetische und auch biobasierte Kraftstoffe in den kommenden Jahren eine wachsende Rolle spielen. Kurzfristig wird das auch über Blends passieren, also Kraftstoffe mit wachsendem CO2-neutralem Anteil als Beimischung. Europa wird sich dieser globalen Entwicklung zwangsläufig anschließen müssen – hoffentlich früher als später, wenn auch die dazu erforderlichen globalen Normen und Standards definiert und umgesetzt sind. HVO100 ist ein erstes Pflänzchen in diesem Bereich.
 

Sie haben bereits die asiatischen Märkte angesprochen. Was unterscheidet die dortigen Strategien vom europäischen Weg?

Prof. Gutzmer: Das beste Beispiel findet sich in Japan. Vor dem Hintergrund von Themen wie Energieverfügbarkeit und -abhängigkeiten, Umwelt- und Klimaschutz sowie angesichts der globalen Krisen verfolgt die dortige Automobilindustrie einen zweigleisigen Ansatz, der von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird: Man treibt gezielt Innovationen voran und setzt gleichzeitig darauf, die vorhandenen Lösungen, die wesentlich zu den heutigen Wohlstandsgesellschaften beigetragen haben, für die Zukunft fit zu machen.

Der Erfolg dieser Strategie lässt sich unter anderem an der erfolgreichen Geschäftsentwicklung von Toyota ablesen: Das Unternehmen hat sich für Innovationen im elektrischen Sektor entschieden, aber gleichzeitig das vorhandene Wissen etwa mit der kontinuierlichen Weiterentwicklung von Hybridantriebskonzepten eingebunden, um die wirtschaftliche Stabilität auch im globalen Wettbewerb und der vorhandenen Vielfalt der Märkte zu sichern. Erfreulicherweise verfolgt BMW eine vergleichbare Strategie.

Entscheidend wird aber China sein, dort erleben wir keine derart polarisierte Diskussion wie in Europa, sondern eine bewusste Entscheidung für einen Mix der Technologien. China hat verstanden: Energiebereitstellung, -verteilung und -nutzung in möglichst großer Vielfalt ist der volkswirtschaftliche Kern, dem sich alle Bereiche unterzuordnen haben. Zudem lässt sich so ein globaler Wettbewerbsvorteil aufbauen.
 

Wie sehr hat die beschriebene Polarisierung mit dem politischen Handeln in Europa zu tun?

Prof. Gutzmer: Leider sehr viel! Der Green Deal und fast noch mehr die EU-Taxonomie haben Voraussetzungen geschaffen, die im Grunde nur eine technologische Richtung ermöglichen. Gleichzeitig hat man sich dabei unrealistische, wenig marktorientierte Ziele gesetzt, wie beispielsweise ein Hochlauf auf 15 Millionen batterieelektrische Fahrzeuge im Bestand in Deutschland bis 2030, doch gleichzeitig den Aufbau der dafür notwendigen Infrastruktur nur halbherzig betrieben. Diese Fehler rächen sich nun.
 

Inwiefern waren viele Ziele von vornherein unrealistisch und nicht erreichbar?

Prof. Gutzmer: Die Marktdurchdringung wurde trotz massiver finanzieller Förderung, aufgrund einer leider überschätzten Marktakzeptanz nicht erreicht. Kosten, Fahrzeugsegmente und Reichweite werden diskutiert. Es wurde auch verkannt, dass eine neue Technologie in relativ kurzen Abläufen sprunghafte Verbesserungen bei geringeren Kosten mit sich bringt. Dies führt unter anderem dazu, dass kein stabiler Gebrauchtwagenmarkt für BEVs der ersten Generationen entstehen konnte – ein enormes Problem für Hersteller und Leasinggesellschaften. Leider wurden auch die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt durch den einseitig fokussierten Mobilitätswandel unterschätzt.
 

Wie zuversichtlich sind Sie als langjähriger Branchenkenner, dass sich Europa in den kommenden Monaten strategisch neu aufstellen wird?

Prof. Gutzmer: Ich bin sehr überzeugt, dass spätestens nach der Bundestagswahl und dem Regierungswechsel in den USA Bewegung in die Diskussion um das Verbrennerverbot in Europa kommen wird. Wir brauchen Veränderungen beim Green Deal, zur Bewertung zu Flottengrenzen und zu Strafzahlungen – wenn in der RED III die Vorgaben für RFNBO nicht noch einmal angepackt werden, wird die Industrie nachhaltig Schaden nehmen, ohne positive Effekte für das Klima. Ich erwarte übrigens auch negative Auswirkungen auf das erforderliche parallele Wachstum der elektrischen Mobilität.
 

Was können wir dabei vom japanischen Beispiel lernen?

Prof. Gutzmer: Japan hat es geschafft, eine gesellschaftlich übergreifende Diskussion zu führen. Dort finden Regulierungen und Umsetzungen weitgehend im Konsens und strategisch auf das Gesamtsystem CO2-neutrale Energieerzeugung und -nutzung fokussiert statt, während bei uns noch nicht einmal ein offener, konstruktiver Dialog möglich scheint.

Aus meiner Sicht ist es unerlässlich, dass wir es wieder schaffen, dass die politischen und wissenschaftlichen Eliten, Industrie und Gewerkschaften miteinander sprechen. Denn die Regeln, die wir geschaffen haben, müssen dringend verändert und angepasst werden – und das wird nur in einer neuen Konsensfindung aller Stakeholder möglich sein.
 

Kann der Motorenkongress 2025 zu einem verbesserten Dialog beitragen?

Prof. Gutzmer: Zumindest werden wir darum bemüht sein. Ein zentraler Part des Kongresses wird eine Podiumsdiskussion zu marktgerechten Zielen sein. Darüber hinaus decken wir ein aktuelles und breites inhaltliches Spektrum von Pkw über Zweiräder bis zu Nutzfahrzeugen und Off-Highway ab. Wir sprechen über neueste Motorenentwicklungen, Hybridkonzepte und Wasserstoff-basierte Systeme ebenso wie über E-Fuels, die beim Kongress breiten Raum einnehmen werden. Dazu bringen wir in Baden-Baden unterschiedlichste Stimmen von Seiten der OEMs und Zulieferer, aus der Wissenschaft und sehr gerne auch aus der Politik zusammen. Der Motorenkongress ist somit aktueller denn je.
 

Welche Entscheidungen und Weichenstellungen sind in den kommenden Monaten besonders dringlich?

Prof. Gutzmer: Jetzt kommt es darauf an, entscheidende Pfosten für eine global wettbewerbsfähige Autoindustrie in einem klimaneutralen prosperierenden Heimatmarkt zu setzen: Einführung des versprochenen Green Deal und Überprüfung des jetzigen Standes der EU-Taxonomie, rasche Korrektur der bestehenden Regeln zum Flottenverbrauch und Verbrennerverbot, eine Überprüfung der Gesamt-Strategie in 2025 – ja, Korrekturen der gesamten gesetzlichen Rahmenbedingungen. Dies richtet sich nicht im Geringsten gegen das erforderliche Wachstum der BEV-Flotte, sondern es geht darum, soziale, volkswirtschaftliche und geopolitische Aspekte in Einklang zu bringen mit den globalen Zielen des Umwelt- und Klimaschutzes. Wir brauchen die Technologievielfalt, um unser fossil basiertes Energiesystem so schnell wie möglich in ein CO2-neutrales, global neu vernetztes Energie- und Mobilitätsnetzwerk zu überführen, das gesellschaftlichen Wohlstand und Versorgungssicherheit gewährleistet.

Quelle: Prof. Peter Gutzmer

Prof. Dr. Peter Gutzmer ist langjähriges ehemaliges Vorstandsmitglied der Schaeffler AG, Lehrbeauftragter und Honorarprofessor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sowie Mitherausgeber der automobiltechnischen Fachzeitschriften ATZ und MTZ. Beim 12. Internationalen Motorenkongress fungiert er als wissenschaftlicher Leiter.