Wenn das Spaltmaß als Qualitätsmerkmal nicht mehr ausreicht
Digitalstrategien für Hardware-fokussierte Unternehmen entwickeln
Die digitale Transformation ist längst zum Bestandteil des täglichen Sprachgebrauchs geworden. Doch was bedeutet das konkret für Hardware-fokussierte Unternehmen und die Automationswelt? Welche Herausforderungen kommen auf sie zu, wie können sie den Wandel aktiv gestalten und ihre Geschäftsmodelle weiterentwickeln? Anja Hendel, Geschäftsführerin der diconium GmbH (Stuttgart), zeigt im Rahmen des VDI-Kongresses AUTOMATION 2023 Gemeinsamkeiten, aber auch jeweilige Besonderheiten der Hardware- und Softwareentwicklung auf.
Die Expertin für Digitalstrategien wirbt insbesondere darum, Hardware und Software nicht als Konkurrenten zu begreifen – sondern als sich gegenseitig ergänzende Bestandteile zukünftiger Geschäftsmodelle. Allerdings: Unternehmen sollten nach ihren Worten verstehen, dass Software-Entwicklung ihren eigenen Regeln folge und deshalb auch andere Strukturen als das Hardware-Engineering erfordere. Mit einem Augenzwinkern bringt das bereits die Überschrift ihrer Keynote zum Kongress auf den Punkt: „Your Spaltmaß is killing my software.“
Qualität versus Nutzen
Was meint dieser Titel? „Hardware wird insbesondere nach ihrer Qualität beurteilt. Das Spaltmaß ist so etwas wie der ultimative Qualitätsmaßstab für Industrieproduktion – die Essenz dessen, was „Made in Germany“ ausmacht“, erklärt Anja Hendel: „Wie gut eine Software ist, wird hingegen nicht an der Qualität festgemacht, sondern am konkreten Nutzen für den Anwender. Und im Zweifelsfall handelt es sich dabei um einen Nutzen, der die Qualität der Hardware sogar noch in den Schatten stellt.“ Das bedeute einen Paradigmenwechsel für Unternehmen etwa aus dem Maschinenbau oder der Automatisierung: Es geht nicht allein darum, altvertraute Abläufe digital abzubilden – sondern Prozesse, Geschäftsmodelle und Vertrieb vollkommen neu zu denken.
Die Teilnehmenden des Kongresses will Anja Hendel dabei insbesondere für eines sensibilisieren: Software zu programmieren ist etwas ganz anderes, als Hardware zu entwickeln, und folgt eigenen Regeln. „Software lebt von Weiterentwicklung und regelmäßigen Updates, während eine einmal entwickelte Hardware natürlich über Jahre hinweg funktionieren soll“, so die Keynote-Speakerin. Dabei verweist sie auf den bekannten US-amerikanischen Onlinehändler: Dieser nimmt Aktualisierungen am Shopsystem und der verwendeten Software rund 24.000-mal vor – jeden Tag! „Hardware-produzierende Unternehmen können ihre über Jahre bewährten Prozesse und Organisationsstrukturen also nicht 1 zu 1 auf die Softwareentwicklung übertragen“, unterstreicht Anja Hendel. „Beides ist gleichermaßen anspruchsvoll, funktioniert aber jeweils vollkommen anders.“
Bedeutung von Tipping Points
Gleichzeitig werde Software als wettbewerbsdifferenzierender Produktbestandteil immer wichtiger. Jede Branche und jeder Technikbereich habe eigene Tipping Points – so wie beim Übergang vom Handy zum Smartphone. „An diesem Punkt wird die Softwaredominanz so stark, dass alte Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren“, erklärt Anja Hendel weiter: „Je langlebiger Hardwareprodukte sind, wie beispielsweise im Maschinenbau und der Automation, desto schleichender geht dieser Weg voran. Doch grundsätzlich wird Digitalisierung alle Geschäftsbereiche betreffen.“ Nicht unterschätzen sollte man dabei die Wirkung derartiger Tipping Points – ist der Nutzen-Gewinn groß genug, kann die Verschiebung der Dominanz sehr schnell geschehen.
Zusammenarbeit neu organisieren
Wie lassen sich Hardware- und Software-Entwicklung mit ihren jeweils eigenen Strukturen am Ende doch wieder zu einer gemeinsamen Sprache und Produktlösungen zusammenführen? Die Expertin empfiehlt, sich dazu mit „Conway‘s Law“ – benannt nach einer These des US-amerikanischen Informatikers Melvin Edward Conway – zu beschäftigen. Demnach prägen die vorhandenen Kommunikationsstrukturen schon im Vorhinein, zu welchen Arbeitsergebnissen Organisationen überhaupt in der Lage sind. Diese Erkenntnis sollten sich Führungskräfte im digitalen Wandel immer wieder vor Augen führen. Anja Hendel: „Hardware- und Software brauchen also die Freiheit, jeweils ihre eigenen Organisationsformen zu finden und zu pflegen, genauso wie es eine gemeinsame Ebene zur Zusammenarbeit und Kommunikation benötigt.“
Konkret bedeutet das für die Automations-Welt in vielen Bereichen ein Umdenken: Es geht in Zukunft nicht mehr allein um ein Produkt, das einmalig verkauft wird und dann über Jahre beim Kunden im Einsatz verbleibt – sondern es geht ebenso um die damit verbundenen Services: vom Vertrieb über die Inbetriebnahme bis hin zu Wartung und Instandhaltung. „Damit verbinden sich jeweils neue Geschäftsmodelle, die Unternehmen bereits heute für sich erschließen können.“ Beispiel Wartung: Qualifiziertes Personal hört, ob eine Maschine richtig eingestellt ist oder nicht. Dabei handelt es sich um Fachwissen, das über Jahre gesammelt wurde – und das nicht ohne Weiteres von einer Person auf die andere übertragbar ist. Anders bei einer Software, so Anja Hendel: „Die Erkennung von Geräuschen und Mustern sind Aufgaben, die Software in Verbindung mit KI mühelos leisten kann, oft sogar noch besser, schneller und zuverlässiger als der Mensch.“
Service als digitales Geschäftsmodell
So wie „Software as a service“ (SaaS) zu einem akzeptierten Geschäftsmodell geworden ist, könnten sich auch in der Automation Serviceverträge schnell etablieren. Das bedeutet nicht nur zusätzliche Umsätze, sondern vor allem eine tiefere und dauerhafte Kundenbindung bis hin zu Predictive Maintenance, ist Anja Hendel überzeugt: „Anbieter von Serviceverträgen wechselt man nicht laufend, auch bei Software bindet man sich längerfristig, allein schon durch die regelmäßigen Updates.“ Zweifelsohne steigen mit der Transformation die Anforderungen auch in der Automation weiter – doch damit verbinden zugleich viele Chancen für Unternehmen, die heute anfangen, ihr Business zu digitalisieren.