Dipl.-Ing. Martin Nitsche ist seit 2024 Geschäftsführer der industriellen Forschungsvereinigung FVV in Frankfurt und Mitglied im Programmbeirat des Internationalen Motorenkongresses.
Mit einer Multipfadstrategie könnten wir Klimaziele erheblich schneller erreichen
FVV-Geschäftsführer spricht über Wege zur Defossilisierung des Verkehrs
Sind allein batterieelektrische Antriebe zielführend für das Erreichen der Klimaziele im Verkehr? Oder kommen nicht verschiedene Antriebskonzepte für eine nachhaltige Mobilität infrage? Und in welchem Umfang könnten E-Fuels dazu beitragen, auch die Bestandsflotten schneller zu defossilisieren? Viele aktuelle Themen werden auf dem 12. Internationalen Motorenkongress diskutiert. Wichtige Impulse in diesem Kontext gibt immer wieder die industrielle Forschungsvereinigung FVV („Science for a moving society“). FVV-Geschäftsführer Martin Nitsche beantwortet im Vorfeld des Kongresses unsere Fragen.
Herr Nitsche, Ihre Studien haben unter anderem gezeigt (vereinfacht gesagt), dass nicht die Wahl klimaneutraler Antriebstechnologien, sondern die Geschwindigkeit ihrer Einführung entscheidend für die Zielerreichung einer THG-neutralen Mobilität ist. Vollzieht sich diese Transformation der Mobilität aktuell schnell genug?
Martin Nitsche: Zunächst möchte ich unterstreichen, dass uns alle – in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – ein gemeinsames Ziel eint: die Defossilisierung der Mobilität und damit verbunden die nachhaltige Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen. Über die Frage, ob dafür eine Technologie ausreicht oder ob wir mehrere Technologiepfade gleichzeitig beschreiten sollten, sowie über die Frage, ob wir aktuell schnell genug bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Zielerreichung handeln, lässt sich ohne Zweifel kontrovers diskutieren.
Mit dem übergeordneten Ziel der Defossilisierung befassen wir uns bei der FVV in unterschiedlichsten Forschungsprojekten. Angesichts unserer Erkenntnisse bin ich von der Notwendigkeit einer Multipfadstrategie überzeugt. Nur so ist es möglich, dem gemeinsamen Ziel schnellstmöglich näher zu kommen.
Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um das Tempo der Transformation zu erhöhen?
Martin Nitsche: Drei Aspekte möchte ich in diesem Zusammenhang ansprechen. Erstens ist es technologisch unbedingt notwendig, schnellstmöglich den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern zu vollziehen – das schließt selbstverständlich auch die Millionen Fahrzeuge in den Bestandsflotten mit ein, die buchstäblich noch jahrelang auf den Straßen unterwegs sein werden.
Zweitens ist politisch dazu eine stärkere Berücksichtigung nicht fossiler Kraftstoffe erforderlich – doch genau dieser Pfad ist durch die aktuelle EU-Gesetzgebung derzeit noch versperrt. Zudem ist zu beobachten, dass sich Veränderungen einmal getroffener politischer Entscheidungen nur sehr träge vollziehen.
Drittens sollten bei all diesen Themen auch Aspekte der Infrastruktur betrachtet werden: Sind Versorgungssicherheit und Rohstoffverfügbarkeit gegeben, welche Maßnahmen sind dafür – bezogen auf verschiedene Technologien von Elektromobilität über E-Fuels bis hin zu Wasserstoff – noch notwendig?
Welche politischen Weichenstellungen sind vor diesem Hintergrund erforderlich?
Martin Nitsche: Mein Wunsch wäre es, dass sich politische Vorgaben viel stärker am gesamten Lebenszyklus eines Produktes und damit verbunden an seiner Ökobilanz, also einem konsequenten Life Cycle Assessment (LCA), orientieren. In einer komplexen Welt reichen einfache Lösungen nicht aus. Stattdessen sind umfassende Konzepte erforderlich, die volkswirtschaftliche und soziale Faktoren ebenso berücksichtigen wie ökologische Notwendigkeiten.
Dazu braucht es meines Erachtens eine Gesetzgebung, die über den Tellerrand hinausschaut. Und gleichzeitig der Wirtschaft den erforderlichen unternehmerischen Freiraum einräumt bei der Entwicklung und Realisation neuer Technologien.
An welchen „Tellerrand“ denken Sie dabei?
Martin Nitsche: Ein Beispiel dazu: Wir können uns nicht allein auf die Gegebenheiten in Europa und den USA fokussieren, sondern sollten auch Mobilitätssysteme weltweit in die Zielsetzung der Defossilisierung einbeziehen. Dazu gehört etwa die Second- und Third-Life-Weiternutzung von Fahrzeugen. Anders gesagt: Ist eine Elektrifizierung des Verkehrs in absehbarer Zeit rund um den Globus tatsächlich vorstellbar – oder braucht es nicht eher differenzierte Lösungen, ebenfalls bezogen auf LCA?
Hinzu kommen Themen der Robustheit und gesellschaftlichen Resilienz. Flüssige fossile Energieträger sind heute außerhalb des Verkehrssektors noch in zahlreichen weiteren Anwendungen unerlässlich, die in den Betrachtungen jedoch kaum wahrgenommen werden – wenn ich beispielsweise an die Notstromversorgung für Kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser oder Rechenzentren denke. Auch für diese Applikation braucht es zukunftsfähige und verlässliche Lösungen auf dem Weg zur Defossilisierung.
Sie sprachen bereits von der Notwendigkeit einer Multipfadstrategie zur Defossilisierung der Mobilität. Welche Bedeutung könnten dabei E-Fuels haben?
Martin Nitsche: Der Business Case für E-Fuels liegt auf der Hand: Als Drop-in-Kraftstoff mit vorhandener Infrastruktur könnte ihre Verwendung direkt dazu beitragen, rasch Emissionen in den Bestandsflotten zu reduzieren, sodass sich hier getätigte Investitionen absehbar sowohl ökologisch als auch ökonomisch rentieren dürften. Aufgrund der großen Volumina ist die Verwendung von E-Fuels für den automobilen Bereich (eDiesel, eBenzin) gleichzeitig eine Voraussetzung, um synthetische Kraftstoffe auch für weitere Transportanwendungen wie den Luft- und Schiffsverkehr wirtschaftlich herstellen zu können.
Kritiker argumentieren häufig, dass E-Fuels hinsichtlich ihres Wirkungsgrads ineffizient und zudem teuer herzustellen seien. Was würden Sie dieser These entgegnen?
Martin Nitsche: Zunächst würde ich empfehlen, eine Life-Cycle Betrachtung vorzunehmen, statt allein auf den Wirkungsgrad zu schauen. Unsere Studien, durchgeführt etwa von Frontier Economics, haben gezeigt: In einem geschlossenen CO2-Kreislauf ist der Wirkungsgrad nur noch eine Frage der Kosten, nicht der Ökologie.
Deshalb freuen wir uns, dass das Berechnungsmodell, das in unseren Kraftstoff-Studien angewandt wurde, nun auch auf europäischer Ebene parallel zu dem Instrument genutzt werden soll, das von der EU erarbeitet worden ist – es wird spannend zu sehen, wie sich beide Modelle gegenseitig optimieren lassen.
FVV betreibt vorwettbewerbliche Grundlagenforschung, um neue Ansätze für nachhaltige Antriebs- und Energiesysteme zu eröffnen. Was sind die aktuellen und zukünftigen Schwerpunkte in Ihrer Arbeit, welche Rolle spielt etwa Wasserstoff dabei?
Martin Nitsche: Selbstverständlich bildet Wasserstoff ein zentrales Thema für uns, nicht nur in der reinen Wasserstoff-Verbrennung, sondern auch in weitergehenden Applikationen sowie in der Verbindung von Wasserstoff und Stickstoff, also Ammoniak. Im Sinne einer Multipfadstrategie zielen wir mit unseren Studien weiterhin darauf ab, Impulse zu geben. Generell kommt es darauf an, in Wissenschaft und Wirtschaft open minded zu bleiben. Die Zukunft der Mobilität erfordert einen Technologiemix. Dazu ist es erforderlich, auch mal einen neuen Weg einzuschlagen, ohne von vornherein zu wissen, wohin er führen und ob er erfolgreich sein wird.
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Quelle: FVV e. V.
Martin Nitsche