Herr Prof. Gutzmer, wie bewerten Sie die starke Fokussierung auf batterieelektrische Antriebe im Hinblick auf das Erreichen der CO2-Ziele?
Prof. Gutzmer: Allein über die Elektrifizierung des Antriebs wird es in überschaubaren Zeiträumen nicht möglich sein, den gesamten Verkehrssektor zu defossilisieren. Selbst wenn das politische Ziel eines Bestandes von 15 Millionen Elektroautos in Deutschland bis 2030 eingehalten würde – was derzeit höchst fraglich ist –, hätten wir damit erst die Hälfte der Klimaziele im Verkehrssegment erreicht. Das Ziel der CO2-Reduzierung auf die gesetzlichen Zwischenziele bis hin zur CO2-Neutralität wird nicht möglich sein, wenn man die Bestandsflotte nicht einbezieht und sektorübergreifend bilanziert.
Die Verunsicherung der Verbraucher, hohe Inflation, wirtschaftliche Herausforderungen sowie mangelnde Akzeptanz des Gesamtsystems E-Mobilität führen dazu, dass Bestandsfahrzeuge aktuell eher noch länger genutzt werden. Das Durchschnittsalter der Flotte in Deutschland liegt bereits bei über elf Jahren, nicht selten werden Autos 18 bis 20 Jahre gefahren, wie eine FVV-Erhebung zum Fahrzeugbestand im Jahr 2020 ergeben hat. Wir sprechen hierzulande von über 48 Millionen Pkw, in Europa über 330 Millionen und weltweit über 1,4 Milliarden Fahrzeuge, Tendenz weiter steigend. Ohne verbrennerangetriebene Fahrzeuge mit nichtfossilen Kraftstoffen können wir somit die Klimaneutralität nicht ansatzweise schaffen – definitiv nicht schnell genug. Zudem werden wir noch viele Jahre Fahrzeuge mit Hybridantrieb neu in die weiterwachsenden Märkte bringen.
Wie könnte denn ein schnellerer Weg zur Defossilisierung aussehen?
Prof. Gutzmer: Die industrielle Forschungsvereinigung FVV e. V. hat sich mit dieser Frage intensiv beschäftigt. Das Ergebnis der Studie zeigt überdeutlich: Ein schnelles Erreichen der Klimaziele im Verkehr hängt ganz wesentlich von den dafür gewählten Technologiewegen ab. Mit Technologieoffenheit wäre eine rasche CO2-Minderung im Verkehrsbereich in Europa relativ zeitnah möglich. Dazu gehört es allerdings, die Bestandsflotte mit sektorübergreifender Bilanzierung und Förderung schnellstmöglich in die Maßnahmen einzubeziehen.
Ein zentraler Punkt der Studie lautet: Der Mix aus sogenannten regenerativ erzeugten strom- und biomassebasierten Kraftstoffen, also nicht-fossilbasierten Kohlen-Wasserstoff-Transformationspfaden, ermöglicht einen schnelleren Übergang zur Treibhausgasneutralität als die politisch gewollte, einseitige Fokussierung auf batterieelektrische Neuwagen. Zu diesem Zweck empfiehlt die Studie den Aufbau eines Technologiemixes mit wachsender Beimischung nichtfossiler Kraftstoffe – zusätzlich zur Elektrifizierung. Mit den entsprechenden politischen Weichenstellungen wäre es bis 2039 in Europa möglich, im Verkehr vollständig klimaneutral zu werden. Dazu müssten wir allerdings alle Optionen nutzen: Elektromobilität, E-Fuels, Biokraftstoffe, Methanol-to-Gasoline (MtG), Wasserstoffverbrenner, Brennstoffzelle, Hybride. Auch eine aktuelle Studie des VDI kommt zu vergleichbaren Aussagen.
Also braucht es unter anderem mehr Anstrengungen und Investitionen zur Weiterentwicklung und Produktion synthetischer Kraftstoffe im industriellen Maßstab?
Prof. Gutzmer: Unbedingt! Es ist faktisch für mich nicht nachvollziehbar, dass die Nutzung von CO2-neutralen Kraftstoffen auf Basis von Biomasse und regenerativem Strom in Europa und Deutschland weiterhin politisch behindert wird. Beimischungen unter vorteilhafter steuerlicher Berücksichtigung wären ein guter Anfang, um dem Markt für defossilisierte Kraftstoffe die Möglichkeit zu geben, sich schrittweise zu entwickeln.
Die globalen Trends zeigen, dass in den nächsten sechs bis acht Jahren hohe Volumina an synthetischen CO2-neutralen Kraftstoffen im Markt verfügbar sein werden. Allerdings nicht in Europa. In Japan beispielsweise wird das Thema Defossilisierung pragmatisch, technologieoffen und nicht ideologisch verfolgt. Nach den dortigen Plänen werden E-Fuels eine bedeutende Rolle in der wirtschaftspolitisch geprägten Strategie der japanischen Automobilindustrie spielen. Auch in den USA erfolgen im Zuge des Inflation Reduction Acts (IRA) große Investitionen zum Aufbau einer rE-Fuels-Infrastruktur. Ähnliches würde ich mir für Europa wünschen.
Investitionen in die Erzeugung CO2-neutraler Kraftstoffe im industriellen Maßstab werden nur erfolgen, wenn es Sicherheit bezüglich der Langfristigkeit in den politischen Weichenstellungen gibt. Ein wesentlicher Vorteil: Transport und Verteilung der E-Fuels sind über die vorhandene Infrastruktur unproblematisch darstellbar. Erforderlich sind vor allem große Investitionen in eine grüne Energieerzeugung und in die Anlagen zur Herstellung der Kraftstoffe.
Müssen diese E-Fuels unbedingt in Deutschland und Europa hergestellt werden? Was antworten Sie Kritikern, welche die These vertreten, dass dies viel zu teuer wäre?
Prof. Gutzmer: Defossilisierung ist eine globale Herausforderung, wie auch die Staatengemeinschaft im Schlussprotokoll der COP28 Dubai vermerkt hat, daher sollten wir auch die Lösung entsprechend angehen. Beispielsweise ist es erheblich sinnvoller, E-Fuels mithilfe von Solar- und Windkraft in sonnen- und windreichen Regionen der Welt zu erzeugen. Dadurch ist die Effizienz viel höher, als dies in Deutschland möglich wäre. Die Stromkosten als wichtiger Kostenfaktor sind dort deutlich niedriger. Das Beispiel von Porsche zusammen mit der Volkswagen Group Innovation, dem E-Fuels-Unternehmen HIF Global und MAN Energy Solutions zeigt in einer ersten Pilotanlage in Patagonien, wie dies gelingen kann. Erweiterungen dieser Konzepte entstehen in den USA, in Asien und in der MENA-Region. Die H2-Erzeugung in Mega-Elektrolyseuren wird weltweit bereits realisiert, bezüglich der Bereitstellung von CO2 über Direct Air Capturing bedarf es noch weiterer Innovationen.
In globalen Maßstäben betrachtet, macht es keinen Sinn, Energie in Form von Elektronen zu speichern und befördern zu wollen. Europa und insbesondere Deutschland bleiben Energieimporteure. Der erforderliche Transport von grüner Energie nach Europa wird in Form von Molekülen ungleich einfacher und effektiver erfolgen. Dazu können wir auf vorhandene, bewährte und zuverlässige Transportketten zurückgreifen. Somit erwarte ich, dass die Kosten dieser Kraftstoffe in Zukunft wettbewerbsfähig sein werden.
Also reicht aus Ihrer Sicht die Elektrifizierung des Antriebsstrangs nicht aus, um alle wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen rund um die Mobilität von morgen zu lösen?
Prof. Gutzmer: Das ist richtig. Allerdings ist die ausschließliche Fokussierung auf das E-Auto in dieser Form nur in Europa festzustellen. Die Strategien beispielsweise der asiatischen Hersteller – sowohl in Japan als auch in China – sind klar: Die Mobilität von morgen wird auf eine Vielfalt an Antriebssystemen und Kraftstoffen zurückgreifen, angepasst an die jeweiligen Anforderungen der regionalen Märkte.
Rein elektrische Antriebe haben ihre Daseinsberechtigung und sind sinnvoll gerade in urbanen Bereichen, aber eben nicht für jeden Anwendungsfall die optimale Lösung. Stattdessen wird auch der Verbrennungsmotor weiter einen großen Teil der Fahrzeugflotten antreiben – allerdings mit CO2-neutralen rE-Fuels und hybridisiert. Der Hybrid kombiniert zwei Technologien, die sich ideal ergänzen. Japan geht klar diesen Weg, China übrigens auch.
Welche Strategien verfolgt Japan dabei konkret?
Prof. Gutzmer: In Japan ist es gelungen, Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft eng miteinander zu verzahnen. Nach der Erklärung „Verwirklichung einer kohlenstoffneutralen und dekarbonisierten Gesellschaft bis 2050“ wurde die „Green Growth Strategy“ formuliert. In diesem Rahmen konzentriert sich der Green Innovation Fund auf die Entwicklung von Technologien, die zur künftigen Kohlenstoffneutralität beitragen – unter anderem synthetische Kraftstoffe. In Japan wird von einem notwendigen CO2-Recycling-Wertstoffkreislauf gesprochen.
Die japanische Regierung hat dazu beim METI (Wirtschaftsministerium) eine Organisationseinheit namens NEDI gegründet. Diese fördert neben der Atomstrom-Erzeugung neuester Generation und elektrochemischen Speichertechnologien auch die zügige Industrialisierung von Wasserstoff und davon abgeleiteten (nichtfossilen) grünen Energie-Molekülen.
Angesichts dieser globalen Trends: Was muss aus Ihrer Sicht in Europa und in Deutschland passieren?
Prof. Gutzmer: Politik und Industrie müssen dringlich umsteuern! Aktuell tun wir zu wenig, um das Ziel der Klimaneutralität im Verkehrssektor in absehbarer Zeit zu erreichen. Gleichzeitig gefährden wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Automobilindustrie und die damit verbundenen Arbeitsplätze.
Die Weltklimakonferenz in Dubai hat für mich nochmals deutlich gezeigt, dass die Welt bei den großen Zukunftsfragen ganz andere Pfade beschreitet als Deutschland und Europa. Der Widerstand gegen den deutschen Weg wird im Gegenteil eher größer als geringer.
Zu den Trugschlüssen hierzulande gehört es unter anderem, dass sich individuelle Mobilität in den kommenden Jahren deutlich reduzieren lässt. Tatsächlich wird die Mobilität im globalen Maßstab eher weiterwachsen – ein Umstand, dem sich etwa Politik und Industrie in Asien sehr bewusst sind. Deshalb brauchen wir Technologien, die uns schneller zur Klimaneutralität im Verkehrssektor führen. Individuelle Mobilität ist und bleibt ein Grundbedürfnis von Wohlstandsgesellschaften. Ohne die zukünftige Einbeziehung des Verbrennungsmotors mit zunehmend defossilisierten Kraftstoffen wird es deshalb keinen nachhaltigen Klimaschutz geben, das werden wir auf unserem 11. Internationalen Motorenkongress von VDI/ATZlive in Baden-Baden ausführlich diskutieren.
Weitere Informationen, das vollständige Programm und die Möglichkeit zur Anmeldung finden sich auf www.motorenkongress.de