Wie sieht der weitere Weg hin zur digitalen Homologation in der automobilen Entwicklung aus? Wie lassen sich Verifizierung und Validierung in zukünftigen Prozessen sicher, zuverlässig und effektiv darstellen? Zu diesen Fragen wird Dr.-Ing. Christopher Wiegand, Solution Manager Homologation, dSPACE GmbH, im Rahmen der ELIV 2024 referieren. Im Vorfeld beantwortet er unsere Fragen.
Digitale Homologation erfordert neue Prozesse und mehr Transparenz
Die Vorteile von digitaler Homologation für die Automobilentwicklung liegen auf der Hand. Wie würden Sie aus Ihrer Sicht den aktuellen Status quo beschreiben?
Dr.-Ing. Wiegand: Meine Wahrnehmung ist: Das, was in der Regulatorik aktuell schon gemacht wird oder vorgeschrieben wird, ist noch nicht gänzlich in der Praxis angekommen. Damit meine ich nicht, dass Simulation nicht genutzt wird – sondern dass sie nicht dazu genutzt wird, um eine Safety Argumentation durchzuführen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass es bei Level 2 plus und Level 3 oder 4 zunehmend schwieriger und vor allem auch immer teurer wird, ohne eine digitale Homologation auszukommen. Die Notwendigkeit ist somit ohne Frage gegeben, in Zukunft verstärkt auf Möglichkeiten der virtuellen oder digitalen Homologation zu setzen.
Welches sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Herausforderungen dabei?
Dr.-Ing. Wiegand: Eine grundlegende Herausforderung besteht darin, dass wir zunächst viel stärker zu einer holistischen, ganzheitlichen Betrachtung gelangen sollten, um von den Vorteilen der digitalen Homologation wirklich profitieren zu können. Komplexe Fragen wie funktionale Sicherheit oder natürlich auch Cyber Security können nicht mehr einzeln betrachtet werden – sondern nur im Gesamtpaket.
Zudem kommt es darauf an, grundlegendes Vertrauen in die Simulation zu bekommen. Dazu braucht es sicherlich mehr Best Practices. Hinsichtlich Vehicle Dynamics beispielsweise sind Best Practices schon in den ISO-Standards formuliert, für die Sensoren hingegen gibt es dies noch nicht. Zwar bestehen schon eine Reihe von Ansätzen und Richtungen, aber es ist ISO-seitig noch nichts formuliert. Das macht es schwierig – auch hinsichtlich der Frage, welche Nachweise zu erbringen sind, sodass ein Assessment seitens der technischen Dienste durchgeführt werden kann. Insofern spüre ich aktuell noch eine gewisse Unsicherheit im Markt, wie mit Regularien und einzelnen Fragen umzugehen ist.
Und wie lässt sich diese Unsicherheit auflösen?
Dr.-Ing. Wiegand: OEMs, Tier-1, die Tool-Hersteller für die Simulation, aber auch die technischen Dienste sollte aus meiner Sicht noch deutlich enger zusammenarbeiten, um wirklich belastbare Fakten schaffen zu können. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob schon die Awareness dafür vorhanden ist, dass bestimmte Aspekte, die auch in den Best Practices genannt werden, die gesetzlich vorgegeben sind, eigentlich nur die Bottomline und das absolut Notwendige darstellen. Hier sollten sich alle Beteiligten zusammensetzen und gemeinsam eine Richtung entwickeln, die deutlich über diese Basisstandards hinausgeht.
Zudem ist es aus meiner Sicht unbedingt wichtig, dass wir Testfahren und Simulationen viel stärker miteinander vernetzen. Aktuell wird der Proving Ground, also die Tests auf der Straße, noch viel zu sehr von den Simulationsmethoden getrennt. Hier braucht es ein Umdenken, um beides als Einheit zu betrachten und die Vorteile für eine prozessuale Sicherheit darauf zu ziehen.
Diese Erkenntnis führt wiederum dazu, dass Prozesse insgesamt nochmals neu bewerten müssen – von der aktuellen Prozessgestaltung hin zu ganzheitlichen, datengetriebenen Entwicklungsprozessen, die die Simulation und die entsprechenden ISOs entsprechend berücksichtigen.
Wie stellen Sie sich die Vernetzung von digitaler Homologation und Testfahren konkret vor?
Dr.-Ing. Wiegand: Die Idealvorstellung wäre, dass man die Aktivitäten am Proving Ground und die dort erhobenen Informationen sinnvoll nutzt – nicht nur für die Produktentwicklung und das Training von KI, sondern auch verstärkt zur Absicherung und Validierung der Simulation. So steigert man wiederum die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Simulation und kann Lerneffekte nutzen, von denen alle Beteiligten profitieren.
Wie wird digitale Homologation die Entwicklungsprozesse insgesamt verändern?
Dr.-Ing. Wiegand: Wie schon angedeutet, wird aus meiner Sicht noch wesentlich mehr Transparenz als bislang, eine stärkere Öffnung und ein noch engeres Zusammenarbeiten in vielen Bereichen notwendig sein. Ein Beispiel: Tier-1 allein können die Validierungsanforderungen auf Fahrzeugebene kaum erfüllen, sondern sind auf eine enge Zusammenarbeit, auf Daten seitens des OEMs und anderer Zulieferer angewiesen. Dazu braucht es eine enge und offene Zusammenarbeit auf Fachebene sowie ein Klima des Vertrauens. Und dazu wiederum gehört unbedingt ein sauberes Definieren von Verantwortlichkeiten.
Welche Erwartungen verbinden Sie mit der ELIV 2024?
Dr.-Ing. Wiegand: Meine Erwartung an die ELIV ist, dass der Kongress zu einem besseren gemeinsamen Verständnis beiträgt und deutlich macht, dass wir zu ganzheitlichen Ansätzen gelangen müssen, um die nächsten Entwicklungsherausforderungen zu meistern und die Potenziale der digitalen Homologation voll zu nutzen. In diesem Kontext werden wir zum Beispiel zeigen, wie man auf dem Proving Ground Vehicle-Dynamics-Versuche nach einer klaren ISO Richtlinie durchführt, um die Erkenntnisse in der Simulation wiederum für entsprechende Homologationsreporte zu nutzen – zur Modell- & Simulationsvalidierung als integraler Bestandteil der V&V Strategie.
Zur Person:
Dr.-Ing. Christopher Wiegand ist Solution Manager Homologation, Corporate Development & Strategy bei dSPACE und referiert beim Internationalen VDI-Kongress ELIV 2024 über den Weg zur virtuellen Homologation.