KTmfk, MEGT

Wälzlagerauslegung unter Berücksichtigung geometrischer Abweichungen

Streuung der Lebensdauern aufgrund geometrischer Abweichungen von Wälzlagerungskomponenten

Wälzlager zählen zu den wichtigsten Maschinenelementen und werden jährlich milliardenfach verbaut. Bei der Auslegung von Wälzlagerungen wird in der Praxis häufig näherungsweise vorausgesetzt, dass die Lagersitze ihre geometrisch ideale Nennform aufweisen. Dementsprechend ergeben sich anwenderseitig hohe Anforderungen an deren Fertigungsgenauigkeit, was einen hohen wirtschaftlichen Herstellungsaufwand zur Folge hat. Die Einbeziehung geometrischer Abweichungen in die Auslegungsrechnung ermöglicht es dem Anwender, deren Auswirkungen auf das Betriebsverhalten abzuschätzen und die Tolerierung auf die Anforderungen abzustimmen.

Abbildung 1: Empfohlene Tolerierungsschemata für Wälzlagerungen der Hersteller Schaeffler (links) und SKF (rechts)

Für die Auslegung von Wälzlagern existiert ein umfangreiches Normenwerk. Bei der Berechnung wird regelmäßig davon ausgegangen, dass die Formabweichungen der Lagersitze an Welle und Gehäuse innerhalb der in den Herstellerkatalogen empfohlenen Toleranzen liegen. Abbildung 1 zeigt die aktuell von den Lagerherstellern Schaeffler [1] und SKF [2] empfohlenen Tolerierungsschemata.

Abbildung 2: Exemplarisches Systemmodell für die statistische Toleranzanalyse

Hohe Toleranzanforderungen bei Wälzlagersitzen

Die angegebenen Toleranzgrade für die Toleranzzonen t der einzelnen Geometrieelemente liegen dabei im Bereich IT4 bis IT7 nach DIN EN ISO 286-1 [3], deren Fertigung mit hohem Herstellungsaufwand verbunden ist [4]. Andererseits führen größere geometrische Abweichungen der Lagersitze zu entsprechenden elastischen Deformationen der Lagerringe, welche sich wiederum auf das Betriebsverhalten des Lagers auswirken. Durch die Berücksichtigung geometrischer Abweichungen bei der Lagerberechnung wird der Anwender in die Lage versetzt, deren Auswirkungen auf Zielgrößen wie etwa Betriebsspiel, Lebensdauer, Reibmoment oder Schwingungsanregung abschätzen und die Tolerierung der Lagersitze an die Anforderungen anpassen zu können.

Methodenentwicklung zur Integration von Abweichungen bei der Wälzlagerberechnung

Vor diesem Hintergrund haben der Lehrstuhl für Maschinenelemente, Getriebe und Tribologie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau und der Lehrstuhl für Konstruktionstechnik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (KTmfk) im Rahmen des FVA-Forschungsvorhabens FVA 736 II [5] eine Methode entwickelt, welche eine Berücksichtigung statistisch verteilter geometrischer Abweichungen bei der Auslegungsrechnung von Zylinderrollenlagern ermöglicht. Diese basiert auf der Verbindung einer statistischen Toleranzanalyse mit Mehrkörpersimulationen. Untersucht wurden Lager vom Typ NU206 und NU216.

Synergie durch Kombination statistischer Toleranzanalysen und Mehrkörpersimulation

Im Rahmen der Methode wird zunächst eine beliebige Zahl abweichungsbehafteter Bauteile erzeugt (sog. Sampling). Anschließend wird für jedes Sample eine Berechnung der resultierenden Lagerringverformungen mithilfe eines Metamodells durchgeführt. Die Auswertung relevanter Funktionsgrößen wie Lebensdauer oder Lagerverkippung erfolgt in der Software FVA- Workbench. Durch diese statistische Betrachtungsweise kann die Realitätsnähe der erhaltenen Berechnungsergebnisse gesteigert werden. Darüber hinaus wird so eine Optimierung der Tolerierung der Anschlussbauteile ermöglicht, welche die Erfüllung der funktionellen Anforderungen bei möglichst geringem Herstellungsaufwand gewährleistet. An kritischen Punkten innerhalb des Parameterraums (etwa im Fall einer hohen Lebensdauer) können detaillierte Untersuchungen des dynamischen Verhaltens (z. B. des Reibmoments) mithilfe einer Mehrkörpersimulation durchgeführt werden.

Modellierung von Abweichungen

Die Beschreibung der originären geometrischen Abweichungen der Oberflächen der Anschlussbauteile (d. h. Wellen- und Gehäuselagersitz) für die statistische Toleranzanalyse erfolgt dabei mithilfe der zweidimensionalen diskreten Fouriertransformation (DFT). Darüber hinaus wurden Durchmesserabweichungen, Kreisballigkeit, Kegeligkeit und Gehäuseteilung separat implementiert und untersucht. An den Lagern wurden Variationen des Innen- und Außendurchmessers sowie der Lagerluft modelliert. Die statistischen Toleranzanalysen wurden jeweils auf der Grundlage eines Systemmodells mit zwei Lagern, einer darin geführten Welle und einer auf dieser zentrisch angreifenden Radialkraft von variabler Höhe durchgeführt (siehe Abbildung 2).

Abbildung 3: Ovalisierung als Außenringlaufbahnverformung (links) und resultierende lagerinterne Lastverteilung (rechts), Lager NU206

Auswirkungen geometrischer Abweichungen auf das Betriebsverhalten

Bei der Analyse verschiedener Modellfälle und Abweichungen zeigte sich, dass die Effekte der geometrischen Abweichungen auf das Betriebsverhalten von den jeweiligen Randbedingungen abhängig sind und nicht zwingend negativ ausfallen. So wurde etwa festgestellt, dass periodische wellenförmige Gestaltabweichungen des Gehäuselagersitzes (stehender Ring) mit einer Frequenz von zwei oder drei Perioden über den Umfang zu einer entsprechenden Verformung des Lageraußenrings und infolgedessen zu einer gleichmäßigeren lagerinternen Lastaufteilung auf die Wälzkörper führen, sofern ein Maximum der Elongation im Bereich des höchstbelasteten Wälzkörpers auftritt. Abbildung 3 zeigt hierzu eine entsprechende Außenringlaufbahnverformung eines Lagers vom Typ NU206 und den daraus resultierenden gleichförmigen lagerinternen Lastbogen.

Abbildung 4: Visualisierung der radialen Laufbahnabweichung in Umfangsrichtung

Effekte von Abweichungen nicht zwingend negativ

Infolgedessen kann in diesem Fall eine Steigerung der Ermüdungslebensdauer erreicht werden. So konnte etwa bei einer statistischen Analyse eines exemplarischen Einsatzfalles eines Lagers vom Typ NU206 mit 10000 Samples bei einer Belastung von C0/P = 2 mit einer vorgegebenen Ovalisierung des Außenringlagersitzes im Bereich von 10 µm bis 25 µm eine mittlere modifizierte Referenzlebensdauer (Lnmr) nach DIN 26281 [6] von 14,40 Millionen Umdrehungen gegenüber 10,10 Millionen Umdrehungen bei einer katalogorientierten Tolerierung erzielt werden. Lag hingegen am maximal belasteten Wälzkörper ein Wellental (d. h. ein Elongationsminimum) vor, hatte dies den gegenteiligen Effekt, d.h. es kam zu einer Verminderung der Lebensdauer.

Dynamiksimulationen

Zur Detailbetrachtung der kritischen Betriebszustände mittels MKS wurde das Tool LaMBDA verwendet. Dieses wurde um Formabweichungen in radiale und axiale Richtungen ergänzt, vgl. Abbildung 4.

Abbildung 5: Exemplarische Darstellung des Ringwanderns bei welligen Lagersitzen

Auf diese Weise konnten Frequenzanregungen aufgrund geometrischer Abweichungen der Laufbahnen von der Nenngeometrie in der Dynamiksimulation untersucht werden. Übertragen sich durch starke Übermaßpassungen Welligkeiten auf die Ringlaufbahn, so führt das zu einer Schwingungsanregung. Diese kann in zwei Arten der Bewegung unterschieden werden: Phasengleichförmige und phasenungleichförmige Bewegung der Wälzkörper. Phasengleichförmige Bewegungen kennzeichnen sich durch Welligkeiten der Laufbahnen, die einem Vielfachen der Wälzkörperzahl entsprechen, in denen sich alle Wälzkörper zeitsynchron in den Bergen oder Tälern der Welligkeiten bewegen. Diese Bewegung zeichnet sich durch eine große Amplitude – Bewegung des Innenrings – aus und führt zu erhöhten Vibrationsanregungen. Im Gegensatz dazu sind die Wälzkörper in der phasenungleichförmigen Bewegung ungleichmäßig verteilt, weshalb keine signifikant hohe Anregung resultierte. Die Bewegungen der Wälzkörper sind z.T. gegenläufig und lassen keine große Bewegungsamplitude des Innenrings zu.

Experimentelle Untersuchungen

Zur experimentellen Untersuchung abweichungsbehafteter Lagerinnenring- und Lageraußenringsitze und deren Formabweichungsübertragung auf die Lagerlaufbahnen wurde der am MEGT verfügbare Reibmomentprüfstand für den Lagertyp NU216, sowie ein Vier-Lager-Prüfstand zur Betrachtung des Lagertyps NU206 eingesetzt. Hierbei dienten Reibmoment und Körperschall als Zielgrößen.

Die Ergebnisse zeigen das Auftreten von tangentialen Relativbewegungen. Dieses Phänomen wird als Wälzlagerringwandern bezeichnet. Es tritt auf, wenn die Schubspannungen, welche im Kontakt zwischen dem Wälzlagerring und dem jeweiligen Umgebungsbauteil vorherrschen, die maximale Schubspannung überschreiten, für die bei der vorliegenden Passung noch ein Reibschluss besteht. Dabei kann es zu starken Geometrieabweichungen (Verlust der Passung) der Lagersitze kommen. Das Wälzlagerwandern tritt verstärkt bei einer großen Anzahl an Welligkeiten an den Lagersitzen auf und äußert sich in einem Einbruch des Reibmoments, vgl. Abbildung 5.

Des Weiteren konnten unterschiedliche Formabweichungsübertragungen auf den Ringkontakt festgestellt werden. Beim Gehäuseversatz wurde die höchste Übertragung in Form einer Ovalisierung beobachtet. Bedingt durch einen Gehäuseversatz kann es zur Verkippung des Innenrings kommen. Die Balligkeit zeigt sich als mittlere Formabweichungsübertragungsform. Wellige Rundheitsabweichungen auf den Lagersitzen haben die geringste Übertragungsform.

Zusammenfassung

Geometrische Abweichungen von Lagersitzen und Wälzkörperlaufbahnen wirken sich deutlich auf Funktionsgrößen wie Lebensdauer oder Schwingungsanregung aus. Im Rahmen des Forschungsvorhabens FVA 736 II wurde von den beteiligten Lehrstühlen MEGT und KTmfk eine Methode zur Integration geometrischer Gestaltabweichungen bei der Auslegung von Wälzlagerungen entwickelt. Diese kombiniert statistische Toleranzanalysen mit Mehrkörpersimulationen und ermöglicht es dem Anwender, die daraus resultierenden Effekte auf das Betriebsverhalten zu quantifizieren und die Tolerierung der Lagersitze auf die Anforderungen abzustimmen.

Literaturverzeichnis

  • [1]Wälzlager – Technische Grundlagen und Produktdaten zur Gestaltung von Wälzlagerungen. Schaeffler Technologies (Hrsg.), 2018
    [2]Wälzlager. SKF (Hrsg.), 2021
    [3]Geometrische Produktspezifikation (GPS) - ISO-Toleranzsystem für Längenmaße - Teil 1: Grundlagen für Toleranzen, Abmaße und Passungen. Beuth Verlag, Berlin, 2019
    [4]Koether, R.; Sauer, A.: Fertigungstechnik für Wirtschaftsingenieure. 5. Auflage. Carl Hanser Verlag, München, 2017
    [5]Atalay, O.; Kramer, V.: Abschlussbericht zum FVA-Forschungsvorhaben Nr. 736 II: Entwicklung und Validierung fortgeschrittener Analysemethoden für abweichungsbehaftete Wälzlagersysteme. Forschungsvereinigung Antriebstechnik e. V., Frankfurt a. M., Heft 1544, 2023
    [6]DIN 26281: Wälzlager – Dynamische Tragzahlen und nominelle Lebensdauer-Berechnung der modifizierten nominellen Referenz-Lebensdauer für Wälzlager. Beuth Verlag, Berlin, 2010

Förderhinweis

Das IGF-Vorhaben 21052 N (FVA 736 II) der Forschungsvereinigung für Antriebstechnik (FVA) wurde über die Allianz industrieller Forschung (AiF) im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

Über die Autoren:

M. Sc. Onur Atalay
Qualitätsingenieur bei Hager Group SE, Blieskastel

M. Sc. Vincent Kramer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Konstruktionstechnik (KTmfk) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), Fachgruppen Toleranzmanagement und Maschinenelemente

Dr.-Ing. Marcel Bartz
Oberingenieur für den Fachbereich Maschinenelemente und Tribologie am Lehrstuhl für Konstruktionstechnik (KTmfk) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)
 

Dr.-Ing. Stefan Götz
Oberingenieur für die Fachbereiche Virtuelle Produktentwicklung und Konstruktionsmethodik am Lehrstuhl für Konstruktionstechnik (KTmfk) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)

Prof. Dr.-Ing. Oliver Koch
Professor des Lehrstuhls Maschinenelemente, Getriebe und Tribologie (MEGT) an der Rheinland- Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) / Kaiserslautern

Prof. Dr.-Ing. Benjamin Schleich
Professor und Leiter des Fachgebiets Product Life Cycle Management (PLCM), Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt

Prof. Dr.-Ing. Sandro Wartzack
Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Konstruktionstechnik (KTmfk) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)