Veränderungskompetenz: Warum benötigen wir heute eine ganz neue Form dieser Fähigkeit?

Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Vor über 30 Jahren war es üblich, bis zur Rente im gleichen Unternehmen zu bleiben. Wenn es passte, wurde dort durch Weiterbildungen und Beförderungen Karriere gemacht. Hier lag der Fokus überwiegend auf Effizienz- und Leistungssteigerung. Mitarbeitende fühlten sich in ihrem Job und im Unternehmen sicher und ein Jobwechsel wurde selten angestrebt. Sicherheit und ein gutes Einkommen stand bei den Mitarbeitenden und auch in der Firmenkultur im Vordergrund, gleichzeitig wurde eher wenig riskiert. Gab es dann doch einmal einen Change, wurde dieser langfristig geplant und bis zum Ende durchgeführt. Im Anschluss konnten die Arbeitnehmenden in ihrem neuen Umfeld ankommen und alle wussten, dass für einen längerem Zeitraum wieder Ruhe im Unternehmen herrschte.


Mit der Automatisierung und der Einführung der EDV wurden häufiger größere Veränderungen im Unternehmen durchgeführt und die bekannte „Sicherheit“ eines Arbeitsplatzes bis zur Rente war nicht mehr im bisherigen Maße gegeben. Für viele Arbeitnehmende wurde es zur großen Herausforderung, sich darauf einzulassen, das gewohnte Umfeld zu verlassen und neue Arbeitsweisen anzunehmen. Der menschliche Faktor wurde in diesem Zuge weniger berücksichtigt - man hatte mitzumachen, andernfalls hatte man keinen Arbeitsplatz mehr. Es herrschte oftmals die Angst, dass Maschinen die eigenen Aufgaben übernehmen und die menschliche Arbeitskraft überflüssig werden könnte. Der Druck war sehr groß, da eine Arbeitslosigkeit keine Alternative darstellte. In dieser Zeit wurde es wichtiger, sich aus seiner Komfortzone zu bewegen und sich auf „Neues“ einzulassen. Die neuen Aufgaben waren trotz der höheren Flexibilität und Veränderungsbereitschaft für die Mitarbeitenden einschätzbar und sein Einsatz, diesen Schritt zu gehen, kalkulierbar.


Heute ist Digitalisierung und Agilität in vielen Unternehmen ein großes Thema und man erhofft sich dadurch, sich dem Markt schneller und besser anpassen zu können, da ansonsten das Risiko bestehen könnte, vom Markt zu verschwinden. Die damit verbundene VUCA-Welt (Akronym für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity) hat uns eingeholt. In Unternehmen werden Veränderungen angestoßen und bevor diese abgeschlossen sind, kommen schon die nächsten und so geht es kontinuierlich weiter. Die Anpassung von Prozessen und Abläufen hinkt meist hinterher, sodass die gewünschten Effekte meist ausbleiben und dadurch die Belastung der Mitarbeitenden immer höher wird. Die bekannte Stabilität im Unternehmen, einen sicheren Arbeitsplatz und damit ein sicheres Einkommen zu haben, ist nicht mehr gegeben – die Aufgaben verändern sich laufend, werden komplexer und undurchschaubarer. Phasen, in denen Ruhe und Stabilität einkehren können, gibt es so nicht mehr. Von jedem Einzelnen wird eine hohe Flexibilität, Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit erwartet.

 
Die aktuelle Agilität, die sicherlich etwas Gutes mitbringt, reicht heutzutage nicht mehr aus. Wir brauchen eine neue Agilität mit weiteren Kompetenzen und dazu gehört z. B. die innere Stabilität bei jedem Einzelnen aufzubauen, denn eine äußere Stabilität ist nicht mehr gegeben. Hinzu kommt, dass mehrere Generationen mit extrem unterschiedlichem Hintergrund aufeinandertreffen: ältere Mitarbeitende kennen noch die Zeit, als es nur ein Telefon zu Hause oder am Arbeitsplatz gab -dazwischen war man nicht erreichbar. Chef oder Chefin hatten keinen PC, Aufgaben wie Terminierung, Reiseplanung und Protokollierung wurden von der Assistenz übernommen. Heute sind alle rund um die Uhr erreichbar. Zuvor gab es feste Arbeitszeiten und, wenn notwendig, Überstunden.  Das Meiste war klar geregelt. Heute besteht die Freiheit, vermehrt auf private Themen flexibel reagieren zu können, wie z.B. die Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen. Dadurch fällt es nicht mehr auf, dass die vorgegebenen 10 Stunden Arbeitszeit oftmals unbewusst überschritten werden. Es wird mittlerweile von Entgrenzung gesprochen, Privates und Berufliches verschwimmen. Die benötigten Ruhezeiten, sich wieder zu sortieren, werden nicht mehr bewusst gelebt. Wir stecken uns selbst in ein Korsett, das wir gar nicht wollen und sind in gewissem Sinne Sklave unserer eigenen Handlungen. Aufgrund dieser fortschreitenden Komplexität und Schnelllebigkeit unserer Arbeitswelt, wird es immer wichtiger, sich eine eigene Veränderungskompetenz, Handlungsfähigkeit und Resilienz anzueignen.


Ich vergleiche die Fähigkeit, Dinge zu erkennen und darauf reagieren zu können, gerne mit dem Auge eines Tornados. Es ist wichtig, sich im Auge des Tornados zu befinden, wo meist ein ruhigeres Wetter herrscht und man gut beobachten kann, was gerade um einen herum im Wirbelsturm passiert. Befindet man sich direkt in den Auswirkungen, sind Handlungen nahezu unmöglich. Auf den Menschen bezogen, hat man eine eigene innere Stabilität und kann Situationen im Außen somit besser erkennen und bewusst auf diese reagieren.

Zur Person

Erika Schmid-Barthel arbeitet mit Fach- und Führungskräften unterschiedlicher Unternehmen und Organisationen – von Geschäftsführer*innen bis zu Mitarbeiter*innen, von Großkonzernen bis zu mittelständischen Unternehmen. Sie blickt auf über 37-jährige Berufserfahrung in unterschiedlichen Fach- und Führungsaufgaben sowie auf über 20 Jahre Change-Erfahrungen in Projekten zurück. Hierbei verbindet sie Business-Knowhow mit menschlichen Faktoren und gestaltet dadurch neue Lebens- und Arbeitswelten. Ihre Schwerpunktthemen sind Change-Management, Resilienz sowie Neu-Orientierung und Burnout/Burnon. Anwendbare Handlungsmöglichkeiten für ihre Klient*innen stehen im Fokus, um trotz aller Herausforderungen ein selbstbestimmtes und ausgeglichenes Leben führen zu können.