Kryotechnik: Grundlagen, Arbeitstechniken, Entwicklungsstand,
-tendenzen und Anwendungen
Interview mit Dr. Holger Neumann
Die Kryotechnik erfährt eine stetig wachsende Bedeutung und zunehmende Anwendung in vielen Bereichen. Doch was genau ist das? Die kryogene Technologie kommt vom griechischen Wort „Kryos“, was übersetzt „kalt“ bedeutet. Die Kryotechnik produziert und untersucht Materialien bei extrem niedrigen Temperaturen. Die ultrakalten Temperaturen verändern die Eigenschaften von Materialien. Im Interview mit Dr. Holger Neumann, Bereichsleiter Kryotechnik am Institut für Technische Physik in Karlsruhe, sprechen wir über diese Technologie und den Einsatz von Kältemitteln und Materialien.
1. Herr Dr. Neumann, bitte stellen Sie sich kurz vor.
Dr. Holger Neumann: Zunächst möchte ich mich herzlich für die Gelegenheit bedanken, hier in diesem Rahmen, dem VDI Wissensforum die Kryotechnik vorstellen zu dürfen. Ich arbeite am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), wo ich am Institut für Technische Physik den Bereich Kryotechnik leite. Hier geht es vor allem um die Kühlung supraleitender Komponenten, für die wir die Kryostatsysteme entwickeln, bauen und betreiben. Hierzu halte ich auch Vorlesungen in Kryotechnik am KIT und an der DHBW Mannheim, aber auch Vorlesungen in Thermodynamik an der DHBW Karlsruhe. Darüber hinaus habe ich eine Gastprofessur an der Zhejiang Universität in China, wo ich ebenfalls Vorlesungen in Kryotechnik halte. Schließlich bin ich auch im Deutschen Kälte- und Klimatechnischen Verein (DKV) aktiv, wo ich von 2019 bis 2023 Vorsitzender war und nun Altvorsitzender bin.
2. Was versteht man unter „Kryotechnik“? / Worum geht es? Wie erzeugt man tiefe Temperaturen?
Dr. Holger Neumann: Kryotechnik beschreibt den Tieftemperaturbereich unter 120 K (-153,15 °C). Erst unterhalb dieser Temperaturen werden Gase bei 1 bar flüssig. Erdgas wird z.B. bei -161°C flüssig (LNG), Wasserstoff (H2) bei -252°C und Helium bei -269°C. Gase verflüssigt man, um sie z.B. in Ihre Bestandteile aufzulösen. Bei einem Luftverflüssiger erhält man hierbei vor allem Stickstoff (N2) und Sauerstoff (O2). Ein anderer wesentlicher Grund für die Verflüssigung ist der Transport und die Speicherung. Flüssigkeiten haben eine sehr viel größere Dichte als Gase und so lassen sie sich als Flüssigkeit einfacher transportieren. Beispielsweise nimmt 1 kg Wasserstoff als Flüssigkeit ein Volumen von 14 Litern ein. Verdichtet man den Wasserstoff bei Raumtemperatur auf 700 bar, würde er ein Volumen von 25 Liter einnehmen.
Hier gibt es derzeit reichlich Projekte, wo aufgrund der Energiedichte der flüssige Wasserstoff relevant ist. Im Mobilsektor hat sich beim Auto die Batterie derzeit durchgesetzt. Aber bei größeren Lasten, wie beim Flugzeug, Schiff, Zug oder auch Schwerlast-LKW´s ist flüssiger Wasserstoff relevant und hier gibt es derzeit massive Entwicklungsvorhaben. Daimler Truck hat beispielsweise die Meldung veröffentlicht: „Mercedes-Benz GenH2 Truck knackt 1.000-Kilometer-Marke mit einer Tankfüllung flüssigem Wasserstoff“. Auch seitens der EU gibt es hier reichlich Förderungen, um solche Entwicklungsarbeiten zu unterstützen. Es ist ja nicht nur mit der mobilen Anwendung getan. Man benötigt natürlich auch entsprechende Verflüssiger und Tankstellen.
Für die Erreichung solch tiefer Temperaturen wurden verschiedene Verfahren entwickelt. Im Seminar gehen wir hier ausführlich auf industrielle Kälteanlagen, Verflüssiger und auch Kleinkühler ein. Wir zeigen auch auf, wo Gase, wie z.B. Helium herkommen und wie dabei die Marktsituation ist. Auch bei Wasserstoff gehen wir auf die weltweite Verteilung und Kapazität von Wasserstoffverflüssigern ein.
3. Bsp. flüssiger Wasserstoff bei -250°C – wie verflüssigt man Wasserstoff?
Dr. Holger Neumann: Großtechnisch erreichte man solche tiefen Temperaturen entweder durch einen mit Helium oder mit Wasserstoff betriebenen Kreislauf. Hierbei wird, wie beim Kühlschrank, das Gas zunächst komprimiert, gegebenenfalls gereinigt und danach in Wärmeübertrager mit flüssigem Stickstoff (LN2) auf ca. -193°C vorgekühlt. Danach wird der Gasstrom in Turbinen entspannt, wobei er bei Helium direkt auf die Verflüssigungstemperatur für Wasserstoff abkühlt. Betreibt man den Kreislauf mit Wasserstoff, so wird nur ein Teilstrom mit Turbinen entspannt, welcher den restlichen Gasstrom in Wärmeübertrager abkühlt und danach mit einem Ventil entspannt und verflüssigt. Beides sind geschlossene Kreisläufe, welche die Kälteleistung für den eigentlichen zu verflüssigenden Wasserstoffmassenstrom bereitstellen. Dieser wird einfach durch einen parallelen Pfad durch die Wärmeübertrager geführt, abgekühlt und mit einem Ventil zur Verflüssigung entspannt. Wasserstoff hat allerdings einige Besonderheiten, so dass man noch einen Katalysator benötigt um die sogenannte Ortho-Para-Umwandlung zu beschleunigen. Neben diesen großtechnischen Anlagen, kann man die Kälteleistung auch durch Kleinkühler bereit stellen und den Wasserstoff „einfach“ an einer kalten Fläche kondensieren lassen.
4. Bewusstsein schaffen: Was bedeutet „-250°C“?
Dr. Holger Neumann: Tiefe Temperaturen, wie z.B. bei flüssigem Wasserstoff oder flüssigem Helium stellen einen vor besondere Herausforderungen, die man sich bewusst machen muss. Die Erzeugung tiefer Temperaturen ist sehr energieaufwendig. Beispielsweise würde man im Idealfall, um ein Watt Kälteleistung bei -269°C (flüssig Helium, LHe) zu erreichen, mindestens 70 W elektrische Leistung aufbringen müssen. Dieser Idealfall wird aber technisch nicht erreicht. Tatsächlich erreicht man Leistungsziffern für diese Temperatur von ca. 0,4%.
Die große Temperaturdifferenz zur Umgebung, der hohe Energieaufwand zur Erzeugung solch tiefer Temperaturen und die relativ kleinen Verdampfungsenthalpien, also die Energiemenge, um Flüssigkeit komplett zu verdampfen, erfordern eine extrem gute Isolierung. Hierbei kommt unter anderem die Vakuumisolierung mit Superisolation zum Tragen.
Wenn Materialien stark abgekühlt werden, werden viele hart und brüchig, so dass man hier besonders auf die verwendeten Materialien achten muss. Bei unterschiedlichen Materialien ist auch zu berücksichtigen, dass Sie unterschiedlich schrumpfen, wenn Sie auf kryogene Temperaturen abgekühlt werden. Und natürlich sind hier auch etliche Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen.
5. Materialdaten: Welche Rolle spielt hier Isolation? Bei Kälte wird das Material brüchig…
Dr. Holger Neumann: Wenn Materialien stark abgekühlt werden, werden viele hart und brüchig, so dass man hier besonders auf die verwendeten Materialien achten muss. Bei unterschiedlichen Materialien ist auch zu berücksichtigen, dass Sie unterschiedlich schrumpfen, wenn sie auf kryogene Temperaturen abgekühlt werden. Hierbei entstehen thermische Spannungen und damit Kräfte, die bei der Konstruktion berücksichtig und kompensiert werden müssen. Und natürlich sind hier auch etliche Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen. Wenn beispielsweise das isolierende Vakuum zusammenbricht, entsteht durch die eintretende Luft ein großer Wärmeeintrag auf die kryogene Flüssigkeit, die dann sehr schnell verdampft. Daraus resultiert ein großer Überdruck im Flüssigkeitsbehälter, der entsprechend abgesichert werden muss. Das dann austretende Gas ist immer noch sehr kalt und kann die Luft und damit den Sauerstoff verdrängen. Somit besteht die Gefahr des Erstickens im Raum. Auch der Kontakt mit kryogenen Temperaturen würde Erfrierungsbrand hervorrufen und muss unbedingt vermieden werden.
6. Konstruktion und Spezifikation – was muss hier beachtet werden?
Dr. Holger Neumann: Es gibt natürlich einige Fachfirmen und Standardkomponenten, die man praktisch als Katalogware kaufen kann. Sehr häufig, gerade bei Entwicklungen, möchte man ein individuelles System bauen. Wenn man sich selbst mit der Kryotechnik nicht beschäftigen will und es aber dringend für sein System, z.B. eine supraleitende Anwendung, benötigt, muss man es zumindest so weit spezifizieren, dass ein Hersteller dieses Kryosystem auslegen und bauen kann. Um ein Gefühlt für so eine Spezifikation zu bekommen, ist es natürlich notwendig, nicht nur die zu kühlende Komponente, sondern auch alle Randbedingungen und Verfahrensweisen zu beschreiben. Hier sei z.B. die Abkühlzeit genannt. Um thermische Spannungen zu vermeiden, sollte man komplexe Systeme langsam abkühlen und dieses Abkühlmodus muss natürlich festgelegt werden. Bei Konstruktionen ist ebenfalls auf diese thermischen Spannungen zu achten, was man durch Bögen oder Bälge erreichen kann. Wichtig bei den Konstruktionen ist auch der Wärmeeinfall, der meist so klein wie möglich sein sollte, um große Wärmeleitlängen, Kontaktwiderstände und schlecht wärmeleitendes Material berücksichtigen zu können. Hier versucht man so kompakt wie möglich zu bauen, um die wärmeaufnehmende Fläche klein zu halten. Hier gilt es auch das Isoliervakuum und damit die Evakuierbarkeit des Systems zu berücksichtigen.
7. Welche Sensoren und bewährte Regelkreise sollten bei tiefen Temperaturen gewählt werden?
Dr. Holger Neumann: Für die Steuerung von kryogenen Systemen benötige ich natürlich tieftemperaturtaugliche Sensoren. Schwerpunktmäßig gehen wir im Seminar auf die Temperaturmessung ein, aber auch die Druck- bzw. Differenzdruckmessung, Massenstrommessung und die Messung des Flüssigkeitsstandes wird diskutiert und anhand von Messungsbeispielen veranschaulicht. Bei der Temperaturmessung benötigt man nicht nur einen geeigneten Messfühler, sondern muss auch die Messtechnik, wie etwa Spannungsmessung, Strommessung mit Stromquelle und die daraus resultierende Genauigkeit berücksichtigen. Dazu gehören auch die Messleitungen mit den Durchführungen durch den Vakuumraum an eine kalte Fläche oder in das kryogene Fluid. Hier ist also die Sensormontage und alle Einflüsse auf das Messsignal sehr wichtig. Und auch externe Einflüsse, wie Magnetfelder und Drücke sind für die Auswahl relevant. Da solche Kryosysteme häufig sehr komplex sind, kommt man im Falle eines Sensorausfalls oft nur mit großem Aufwand an die Sensoren, so dass man sich auch um Redundanzen Gedanken machen muss.