Ideal Performance State
Haben Sie sich auch des Öfteren die Frage gestellt, was einen Leistungssportler dazu befähigt, im richtigen Moment an die Obergrenze seines Talents und Könnens gehen zu können? Bewundernswert, oder? Aber dahinter steckt keine Zauberei, auch wenn es manchmal so erscheint. Das Erfolgsgeheimnis ist neben der körperlichen Fitness oftmals das Ineinandergreifen verschiedener mentaler Fähigkeiten. Wenn diese Faktoren optimal miteinander vernetzt sind, kann ein idealer Leistungszustand erreicht werden.
Der Sportpsychologe James E. Loehr definierte den Begriff Ideal Performance State und postuliert, dass wir in diesem Zustand vollkommen körperlich entspannt sind. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass unser Leistungsniveau ein unmittelbarer Ausdruck unserer inneren Empfindungen ist. Wenn Sie jetzt kritisch hinterfragen, was dieses Modell aus dem Leistungssport denn mit unserem realen Alltag zu tun haben soll, möchte ich ein kleines Beispiel anführen:
Versetzen Sie sich einmal gedanklich in eine Zeit zurück, in der eine belastende Situation in Ihrem Privatleben Sie sehr stark beschäftigt hat: z.B. eine Auseinandersetzung in der Partnerschaft. Können Sie sich auch noch daran erinnern, wie sehr Ihre Konzentration im beruflichen Alltag immer wieder abriss und die eigenen Gedanken um das besagte Problem kreisten? Dass unser Leistungsniveau im Job in diesem Zustand in hohem Maße Ausdruck unserer inneren Empfindungen ist, kann wahrscheinlich niemand von der Hand weisen und viele von uns aus eigener Erfahrung bestätigen. Und dass ein Strafstoß, den die meisten von uns Zuschauern als sicheres Tor sehen würden, in einem solchen mentalen Zustand des Schützen durchaus misslingen kann, ist dann sicherlich auch nachvollziehbar.
Doch von welchen mentalen Faktoren sprechen wir überhaupt? Und wie könnten diese uns, unsere eigene Schaffenskraft, Kreativität und letztendlich unsere Freude an unserer Tätigkeit positiv beeinflussen? Lassen Sie uns dies an einigen Beispielen betrachten:
Fokus auf das Positive
„Auch wenn der Schuss über die gegnerische Mauer schwierig erscheint, konzentriere ich mich auf das Tor!“
In schwierigen Situationen ist es oftmals hilfreich zu prüfen, was trotz aller Widrigkeiten noch gut funktioniert bzw. möglich ist. Diese lösungsorientierte Einstellung als mentale Ressource hilft uns, unsere Energie auf das Positive zu richten. Im zwischenmenschlichen Bereich bedeutet Lösungsorientierung möglichst nicht auf negative Emotionen Anderer einzusteigen, z.B. sich nicht von den Provokationen der gegnerischen Spieler in der Mauer vor dem Freistoß irritieren zu lassen. Insbesondere solche emotional aufgeladenen Situationen verleiten uns dazu, immer wieder auf das Problem zu schauen. Wir entwickeln einen Tunnelblick, jedoch ohne das Licht am Ende und schauen wie hypnotisiert nur noch auf das Negative. Trainieren Sie ihre Lösungsorientierung, um in solchen Situationen leichter aus der Problemtrance herauszukommen. Durch sie kommen wir wieder in die eigene Handlungsfähigkeit.
Mentaler Faktor Fokussiertheit
„Nachdem wir in der ersten Halbzeit unsere Ziele aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir in der zweiten unsere Anstrengungen!“
Dieses abgewandelte Zitat von Mark Twain bringt es auf den Punkt: Aktiv und vorwärtsgerichtet, also zukunftsorientiert nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen ist eine weitere wichtige Ressource. Dies bedingt eine maximal mögliche Fokussiertheit als wichtigen mentalen Faktor. Aber was bedeutet Fokussiertheit überhaupt? Um das zu erfahren, lade ich Sie zu einem Experiment ein: Nehmen Sie sich fünf Minuten ungestörte Zeit in einer ruhigen Umgebung. Setzen Sie sich gerade, aber entspannt auf einen Stuhl und schließen Sie die Augen. Versuchen Sie sich nur auf Ihren Atem zu konzentrieren, auf die ein- und ausströmende Luft. Wie gut gelingt Ihnen dies in den fünf Minuten, ohne dass ihre Gedanken anfangen abzuschweifen? Ein regelmäßiges Training dieser Übung – manche nennen diese auch Meditation – fördert die eigene Fokussiertheit. Um über einen langen Arbeitstag fokussiert zu bleiben brauchen wir ausreichend Erholungsmöglichkeiten. Nach einer längeren Zeit konzentrierten Arbeitens lässt unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig nach. Machen Sie öfters eine kurze Pause an der frischen Luft, vielleicht kombiniert mit etwas Bewegung. Das funktioniert übrigens auch sehr gut in der Fernseh-Pause nach einer aufreibenden ersten Halbzeit.
Gutes Netzwerk verleiht Selbstsicherheit
„Ich stehe nicht alleine auf dem Platz, ich werde von meinem Team unterstützt!“
Das Wissen, auf ein funktionierendes Netzwerk aus guten sozialen Kontakten vertrauen zu können, gibt uns Selbstsicherheit als mentalen Faktor. Es reicht oftmals schon das Gefühl, über ein starkes Netzwerk zu verfügen, um uns sicherer im Umgang mit Herausforderungen und Problemen zu fühlen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Wechselseitigkeit aus Geben und Nehmen. Es geht darum, aktiv Bindungen zu schaffen, zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Auch ist es hilfreich, die Nähe optimistischer Menschen oder Vorbilder zu suchen. Wir sind von Natur aus keine Alleingänger und brauchen soziale Beziehungen, um uns wohlzufühlen. Nehmen Sie sich doch einmal einen kurzen Moment Zeit und reflektieren Ihr eigenes Netzwerk aus Familie, Freunden und Kollegen. An wen können Sie sich bei Herausforderungen oder Problemen vertrauensvoll wenden? Übrigens gehört die soziale Unterstützung zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen psychische Belastung.
Gesunder Optimismus
„Wenn der eine Schuss auf das Tor mal danebengeht, gelingt aber bestimmt der nächste!“
Unser Optimismus ist eine wichtige mentale Ressource. Es ist sozusagen die Fähigkeit, mit positiven Denkmustern das Schöne und Wertvolle in unserem Leben zu erkennen. Dazu brauchen wir jedoch keine rosarote Brille und das Glas darf auch mal halb leer sein. Eine optimistische Einstellung bedeutet nicht, dass immer alles funktionieren muss. Ein gesunder Optimismus zeichnet sich vielmehr dadurch aus, auch negative Emotionen und Erlebnisse wahrzunehmen, sie aber nicht überwiegen und unsere Leistungsfähigkeit untergraben zu lassen. Überprüfen Sie einmal eigene negative Denkmuster. Hilfreiche Schlüsselbegriffe zu deren Identifikation sind übrigens Ausdrücke wie „immer“ oder „jedes Mal“. Und versuchen Sie einmal positive Umformulierungen zu trainieren. Pessimismus müssen wir nicht trainieren. Dieser hat sich evolutionsbedingt in uns perfektioniert. Das Schlimmste zu erwarten war eben der Vorteil, der unseren Vorfahren das Überleben sicherte. So kommt es auch, dass wir oftmals in eine Problemtrance verfallen und unserem „Kopf-Kino“ den Rest überlassen.
Innere Gelassenheit beibehalten
„Ein Distanzschuss auf das gegnerische Tor kann gelingen, oder auch nicht!“
Akzeptanz ist wichtig für einen guten Umgang mit Entscheidungen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen bzw. Veränderungen. Das führt uns zu innerer Gelassenheit als mentalen Faktor. Diese hilft vor allem dabei, Veränderungen, auf die wir selbst keinen Einfluss haben, besser anzunehmen und uns damit zu arrangieren. Wenn es während des Spiels anfängt zu regnen, dann kann ich das nicht ändern. Aber es macht den Umgang damit leichter, wenn ich mir sage: „It is what it is!“. Und manchmal hilft es auch festzustellen, dass eine Entscheidung, wenn nicht sofort, dann aber vielleicht später noch möglich ist. Wichtig ist die Erkenntnis, dass jede Entscheidung oder Veränderung in unserem Leben, ob positiv oder negativ, uns zu der Person gemacht hat, die wir heute sind. Auch wenn Veränderungen manchmal schwerfallen, sind sie für eine Weiterentwicklung notwendig. Denn die Alternative ist Stillstand!
Erhöhung der Selbstwirksamkeit
„Auch wenn die Abwehr des Gegners unüberwindbar erscheint, wird es einen Weg geben, daran vorbeizukommen!“
Eine Haltung wie diese, in der wir kaum Angst als mentale Blockade verspüren, wird genährt durch eine hohe Selbstwirksamkeit. Unter Selbstwirksamkeit wird unsere Überzeugung verstanden, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Wenn wir also vor dem Tor des Gegners von dessen Abwehrspielern eingekreist sind und ein Team-Mitglied nicht anspielbar ist, können wir trotzdem fest daran glauben, den Ball ins Ziel zu bekommen. Der Psychologe Albert Bandura hat für den Aufbau und die Steigerung unserer Selbstwirksamkeit vier Wege identifiziert: Durch eigene Erfolgserlebnisse, durch beobachtete Erfolge Anderer, durch den positiven Einfluss nahestehender Personen und durch die positive Interpretation eigener Empfindungen. Nehmen Sie sich doch einmal kurz Zeit und reflektieren Sie schwierige Situationen in ihrem Leben, die Sie positiv bewältigt haben. Alleine die Bewusstmachung vorhandener eigener Ressourcen ist hilfreich zur Selbstwirksamkeitserhöhung – „Ich weiß, ich kann!“.
Motiviert bleiben
„Für meinen Schuss auf das Tor übernehme ich auch selbst die Verantwortung!“
Im beruflichen Kontext gibt es oftmals genaue Regelungen, wofür wir verantwortlich sind. Für das eigene Leben müssen wir selber die Verantwortung dafür übernehmen, was wir tun und was nicht. Unser Wohlbefinden hängt nicht von anderen ab und wir sind nicht Opfer anderer Menschen oder Umstände. Wir haben immer die Wahlmöglichkeit. Aber genau diese Einstellung der Übernahme eigener Verantwortung bedingt ein hohes Maß an Motiviertheit als mentale Ressource. Sie kennen es sicher aus eigener Erfahrung: Wenn Sie etwas unbedingt wollen, strengen Sie sich deutlich mehr an, als wenn das Erreichen eines Ziels für Sie weniger attraktiv erscheint. Wo sind Sie hoch motiviert und auf welche Bereiche könnten Sie diese starke Kraft übertragen?
Neue Gewohnheiten etablieren
Was einen Leistungssportler letztendlich besonders auszeichnet, ist seine körperliche Fitness. Aber gerade diese in einem für uns ausreichendem Maße zu erreichen und vor allem dauerhaft zu erhalten, fällt vielen von uns neben unseren Verpflichtungen im beruflichen Alltag und im Privatleben oftmals schwer; besonders kritisch ist hier der Einstieg in die „Rushhour“ des Lebens mit Karrierestart und Familiengründung. Dabei ist neben einer ausgewogenen Ernährung und ausreichend Schlaf insbesondere die regelmäßige sportliche Bewegung der beste Schutz vor negativen Emotionen (z.B. depressive Verstimmung) und unangenehmen Gefühlen (z.B. Angst). Wenig hilfreich sind dann auch gute Vorsätze zum neuen Jahr, oder der Blick auf die Waage. Und sogar der Sportplatz vor der Haustür ist kein Garant dafür, sportlich aktiv zu werden. Warum eigentlich?
Um ein neues Verhalten zu etablieren, müssen wir zwangsläufig ein Altes aufgeben. Und hier kommen verstärkt unsere Gewohnheiten ins Spiel. Das sind oftmals über einen längeren Zeitraum gut eintrainierte Handlungsabläufe, wie z.B. das Feierabendbier auf dem Sofa vor dem Fernseher. Ungünstigerweise sind diese dann auch noch mit für uns angenehmen Reizen verbunden.
Was kann uns also helfen, um unsere alten Gewohnheiten zu durchbrechen? Prinzipiell all das, was auch den idealen Leistungszustand ausmacht:
- Eine aufmerksame und lösungsorientierte Einstellung für die eigene Gesundheit.
- Eine nach vorne gerichtete Fokussiertheit für die selbst gesteckten Ziele.
- Eine hohe Selbstsicherheit durch ein unterstützendes Netzwerk, um dranzubleiben.
- Eine optimistische Einstellung mit positiven Denkmustern, es schaffen zu können.
- Eine durch Akzeptanz geförderte innere Gelassenheit, auch bei kleineren Rückfällen.
- Eine hohe Selbstwirksamkeit mit geringem Angstpotenzial bei Herausforderungen.
- Eine motivierte Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben.
Diese Eigenschaften, miteinander kombiniert, charakterisieren in einem hohen Maß das, was allgemein mit Resilienz bezeichnet wird. Und als Tipp für den sportlichen (Wieder-)Einstieg: Lassen Sie es langsam angehen und suchen Sie sich Gleichgesinnte, die mitmachen.
Eine spannende Fußball-Weltmeisterschaft 2022 wünscht Ihnen
Christian Schein
Dr.-Ing. Verfahrenstechnik VDI / M.Sc. Psychologie / Fachkraft für psychische Gesundheit