Frauen im Ingenieurberuf: Cigdem Serbest
Technik und IT haben mich schon als junges Mädchen begeistert. Daher war sehr schnell für mich klar, dass ich ein Ingenieursstudium anstreben werde. Diese Entscheidung sowie mein technischer Background und die jahrelange Tätigkeit als Ingenieurin helfen mir heute in meinem Berateralltag und meinen Business Coachings, die Bedürfnisse meiner Kunden besser zu verstehen.
Als Ingenieurin habe ich schon früh erkannt, dass die künftigen Kernkompetenzen in der Arbeitswelt nicht nur in den fachlichen Themen liegen werden oder im Management von Unternehmensprozessen, sondern auch sehr stark in den Soft Skills und in der Menschenführung.
Gute Kommunikationsfähigkeiten, Menschenkenntnis, Empathie, Achtsamkeit und Resilienz sind wichtiger denn je geworden, um sich in diesem Berufsfeld weiterentwickeln zu können.
Für analytisch denkende Menschen ist es jedoch nicht immer einfach, solche Soft Skills aufzubauen. Daher ist es mir immer wichtig gewesen, diese Fähigkeiten methodisch aufzubauen, um einen besseren Bezug dazu zu finden. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse unterstützen dabei, sich diese Soft Skills methodisch anzueignen und weiterzuentwickeln. So beschloss ich vor einigen Jahren, nicht mehr nur Ingenieurin zu sein, sondern mir noch ein zweites berufliches Standbein zu schaffen. So habe ich mich im Bereich Beratung und Coaching weiterentwickelt und den Mindful Business Club gegründet.
Mir liegt schon seit Jahren am Herzen, Achtsamkeit stärker in das Berufsleben zu integrieren, und erst recht in technisch dominierten Berufen und Unternehmen. So habe ich mich weitergebildet zum Mindful Business Coach für Führungskräfte und technische Teams. In diesem Jahr kommt nun noch eine beratende Tätigkeit hinzu, um Mindfulness in Organisationen zu etablieren.
Das Zusammenbringen der beiden Welten Technik und Unternehmertum mit den Soft Skills einer Mindful Leadership sowie dem Mindful Business ist meines Erachtens in einer Welt, die wir mittlerweile VUCA*-Welt nennen, unerlässlich. Denn ständige Veränderung, wie wir sie mittlerweile tagtäglich erleben, kann nur mit einer starken mentalen Fähigkeit unserer Führungskräfte und Mitarbeitern getragen werden.
Daher möchte ich im Weiteren auf den Aspekt der Mindful Leadership eingehen und erläutern, warum es mir wichtig erscheint, aus unternehmerischer Perspektive diese Blickrichtung einzunehmen.
Mindful Leadership: Selbstführung als Basis einer achtsamen und wirksamen Führung
Auf der Führungsebene ist es heutigentags mehr denn je eine zentrale Aufgabe geworden, in komplexen und unsicheren Zeiten einen souveränen Führungsstil zu haben und sich selbst und anderen dadurch Orientierung zu geben. Doch Orientierung braucht ein von Sicherheit und Struktur geprägtes Umfeld. Wie soll dies aber angesichts der komplexen und unsicheren Zeiten unserer VUCA-Welt funktionieren?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst einmal verstehen, wen oder was wir wirklich führen wollen.
Wir führen Menschen! Menschen mit eigenen Handlungs- und Verhaltensweisen.
Führen ist nicht zu verwechseln mit managen, denn gemanagt werden Ressourcen und Dinge.
Wir müssen verstehen, warum Menschen so handeln, wie sie handeln, bevor wir die obenstehende Frage beantworten können.
Die Handlungen von Menschen bestehen aus individuellen Verhaltensweisen und Automatismen, die – einfach erklärt – in der Summe die Persönlichkeit eines Menschen ausmachen und in einem Team, einer Organisation oder einem Unternehmen insgesamt zum Geschäftsergebnis beitragen. Sie müssen sich das so vorstellen, dass jeder Mensch ein Puzzleteil ist und erst in der Summe aller Puzzleteile sich ein ganzes Bild ergeben kann. Doch wenn man diese Puzzleteile nicht versteht, ist es schwierig, ein klares Big Picture zu vermitteln.
Die jeweiligen Verhaltensweisen der Menschen sind das Ergebnis ihrer Persönlichkeit und der Einflüsse ihrer Umgebung. Letzteres, die Umgebung, ist für die Führung ein wichtiges Feld. Hier setzt das eigentliche Ziel von Führung an, nämlich dafür zu sorgen, dass die richtige Umgebung vorhanden ist und dass die richtigen Randbedingungen gesetzt werden, um das Big Picture in die Tat umzusetzen.
Bevor wir aber die Umgebung anpassen wollen, müssen wir erst mal verstehen, dass der menschliche Organismus sich aus Sicht der Natur energiesparend verhalten möchte. Sprich der Mensch ist von Natur aus faul. Nicht auf eine schlechte Art und Weise, sondern auf eine evolutionäre Weise. Daher führen wir auch einen großen Teil unsere Handlungen und Verhaltensweisen im Autopiloten durch. Wir mögen es von Natur aus, im Autopiloten zu sein, uns gewohnheitsmäßig so zu verhalten, wie wir am wenigsten Energie vergeuden. Das heißt, wir gehen gerne den Weg des geringsten Widerstands. Im Autopiloten greifen wir auf unsere unbewussten Gewohnheiten zurück. Wie zum Beispiel beim Autofahren oder Zähneputzen am frühen Morgen. Dies tun wir aber auch in unserer Arbeitswelt, hier stellen wir oftmals auch unbewusst auf Autopilot. Dieses individuelle Verhalten spiegelt sich dann in unserer Umgebung und auch in der Organisation wider: Unsere individuellen unbewussten Gewohnheiten/Automatismen werden zu organisatorischen unbewussten Gewohnheiten/Automatismen.
In Kombination mit der VUCA-Welt, in der wir heute agieren, ist es kontraproduktiv, auf Basis unbewusster Gewohnheiten/Automatismen zu handeln. Dies kostet uns immens viel Energie – und am Ende des Tages sehr viel Geld. Hier braucht es eine bewusste und wirksame Führung, um Veränderungen, denen wir ausgesetzt sind, mit einer gesunden mentalen Stärke entgegenzuwirken.
Somit kommen wir zu einer möglichen Antwort auf unsere erste Frage: Eine bewusste wirksame Führung in unserer komplexen und unsicheren Arbeitswelt kann die grundlegende Kompetenz hierfür sein. Eine bewusste und wirksame Führung baut auf der Fähigkeit der Achtsamkeit und der Schlüsselkompetenz der Selbstführung auf und kann damit weiterentwickelt werden.
Doch was ist die Basis für die Selbstführung? Selbstführung ist nicht die Fähigkeit, morgens aufzustehen und den Tag irgendwie meistern zu können. Das würde wiederum bedeuten, dass wir aus einem Automatismus heraus handeln.
Selbstführung setzt sich aus der Fähigkeit der bewussten Selbstregulierung, der Selbstreflexion und vor allem der Selbstakzeptanz zusammen. Erst auf diesem Fundament kann die Selbstwirksamkeit aufgebaut werden und in der Kombination ist eine wirksame Selbstführung und die Führung anderer möglich.
Nehmen wir diese Bausteine der Selbstführung etwas genauer unter die Lupe, um sie zu verstehen:
- Selbstregulierung: ist die Fähigkeit, die automatisierten inneren Prozesse zu erkennen und zu steuern/zu beeinflussen und so unbewusste Gewohnheiten und Handlungen besser zu regulieren.
- Selbstreflexion: der Unterbau der Selbstregulierung. Die Fähigkeit, eine Situation subjektiv zu beobachten (Beobachterrolle) und das Objekt, welches genau beobachtet werden soll, zu isolieren, z. B. den Gedanken oder die Emotion zu objektivieren.
- Selbstakzeptanz: die Fähigkeit, anzunehmen, was gerade ist und vor allem wie man ist! Emotionen oder Gedanken anzunehmen, ohne sie zu bewerten oder zu beurteilen.
- Selbstwirksamkeit: Erst wenn wir die vorherigen drei inneren Prozesse durchgeführt haben, ist dieser vierte Prozessschritt möglich. Erst jetzt ist es möglich, etwas an unserem Verhalten und unseren Gewohnheiten zu ändern. Dies nennt man dann wirksame Führung. Doch das ist der schwierigste Weg: der Weg zu sich selbst. Dies erkannten schon die Philosophen der Antike und auch von Hermann Hesse gibt es hierzu ein wunderbares Zitat: „Der lange Weg zu sich selbst.“ (In den Erzählungen von Hermann Hesse lassen sich viele Grundeigenschaften der Mindful Leadership erkennen. Er entdeckte auf der Suche nach der eigenen Identität die Wichtigkeit, seine Gefühle anzuerkennen, um sich selbst kennenzulernen. Genauso ist es auch bei der Mindful Leadership. Das wundervolle Vermächtnis von Hermann Hesse ist für die Arbeit der Mindful Leadership eine wertvolle Quelle für jeden, der mehr darüber erfahren möchte, was in seinem Inneren passiert.)
Erst wenn wir die Spirale aus unseren unbewussten Gewohnheiten/Automatismen durch Selbstregulierung, Selbstreflexion und Selbstakzeptanz erkennen, erhöhen wir unsere Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz in der Selbstführung.
Erst wenn wir diese Tiefe der Selbstführung erkannt haben, ist es auch möglich, andere mit dieser sinnhaften achtsamen und wirksamen Führung zu inspirieren, aber auch sich selbst und die anderen besser zu verstehen, mehr Empathie für sich und sein Gegenüber zu entwickeln und auch besser zu erkennen, wann für die Mitarbeitenden Führung notwendig ist oder auch, wann Führung diese überfordert oder sie auch losgelassen werden sollte. So erschaffen wir eine Umgebung, in der die Summe der individuellen Verhaltensweisen und bewussten Handlungen in den Teams, Organisationen und Unternehmen positiver zum Geschäftsergebnis beitragen können.
* VUCA ist ein Akronym für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit).