Die Infrastruktur von Deutschland: Chancen und Herausforderungen

Prof. Dr.-Ing. Bertram Kühn leitet seit 2013 das Fachgebiet Stahl-, Verbund- und Brückenbau im Fachbereich Bau der Technischen Hochschule Mittelhessen. In einem seiner aktuellen Forschungsprojekte befasst er sich intensiv mit einer KI-gestützten Prognose, wieviel wiederverwendbare Stahlbauteile, wo genau, zu welchem ungefähren Zeitpunkt verfügbar werden, um diese dem Stoffkreislauf zur Weiternutzung im Bausektor unmittelbar wieder zuführen zu können. Im Interview sprechen wir mit ihm über Maßnahmen und Lösungsansätze sowie Chancen und Herausforderungen für Deutschlands Infrastruktur..
 

1. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht notwendig, um die zunehmende Zahl der sanierungsbedürftigen Brückenbauwerken instand zu setzen?

Prof. Bertram Kühn: Der wohl am schwierigsten zu beantwortende Teil dieser Frage ist, ob es der Politik, anders als in den beiden Dekaden rund um die Jahrtausendwende gelingen wird, auch unter schwierigen finanziellen Randbedingungen die Priorität „funktionierende Infrastruktur“ nicht aus den Augen zu verlieren, die zwingend notwendigen Investitionen hochzuhalten und damit die wesentliche Voraussetzung zu schaffen, überhaupt Sanierungen und Instandsetzungen durchzuführen. Leider zeichnet sich auf verschiedenen Landesebenen bereits ein neuer Einschnitt in diesen Mitteln ab und auch beim Bund ist dieser noch nicht genau abzusehen. Hinzu kommt noch ein strukturelles Problem bei der Fördermittelvergabe im Infrastrukturbau an Städte, Gemeinden und Kommunen, welches den Neubau bei einer Vielzahl von Fördermöglichkeiten klar vor der Sanierung und Instandsetzung bevorzugt. Nicht umsonst sind gerade im genannten Bereich sehr viele Brücken kurz vor der Sperrung oder bereits gesperrt, einfach weil notorisch klamme kommunale Haushaltskassen häufig nicht die Mittel für normale Unterhaltungen hergeben, geschweige dann für Sanierungen und Instandsetzungen. Also muss so lange gewartet werden, bis die Brücken vollständig kaputt sind, um dann eine Förderung für einen Neubau zu bekommen.

Aber die Finanzmittel und Fördermöglichkeiten alleine sind nicht das einzige Hindernis. Vielmehr ist festzustellen, dass es gerade beim Fachpersonal sowohl auf der Seite der öffentlichen Auftragsverwaltung als auch bei den planenden Ingenieurbüros und den Baufirmen gleich einen doppelten Engpass gibt. Zum einen greift auch im Bausektor der bekannte Effekt der Demografie, verbunden mit einer sehr hohen Anzahl an ausscheidenden erfahrenen Mitarbeitenden. Hinzu kommt aber der doppelt verschärfende Effekt, dass die noch arbeitenden, erfahrenen Kollegen*innen in einer Zeit ihr Handwerk gelernt haben, in der Neubau das absolute Maß aller Dinge war. Erst die gerade in der Ausbildung befindlichen neuen Bauingenieure*innen lernen wieder, wie schon damals in der Nachkriegszeit, mit altem, beschädigtem Bestand umzugehen, vorhandene Baurohstoffe weiter- oder wiederzuverwenden und die ganzen Besonderheiten eines alten Brückenbestandes zu verstehen. Ein nicht zu unterschätzender Effekt, den man mit dem englischen Begriff „Brain drain“ gut umschreiben kann, und wo ich z. B. eine wichtige Aufgabe von professionellen Wissensvermittlern wie dem VDI-Wissensforum sehe, die die notwendige Fachexpertise und Handlungskompetenzen zum Umgang mit dem Bestand unbedingt auch an die bereits im berufstätigen Kolleg*innen heranbringen sollte.
 

2. Inwieweit sehen Sie Chancen, diesen Herausforderungen durch Digitalisierung und Schnellbausystemen zu begegnen?

Prof. Bertram Kühn: Die Digitalisierung birgt für mich eine Vielzahl an Chancen, gerade mit dem zweiten weiter oben bereits genannten Problem des doppelt knapper werdenden Fachpersonals umzugehen. Zum einen zeichnet sich bereits jetzt ab, dass KI-gestützte Methoden, z. B. bei der Bauwerksbegutachtung eine sehr gute Unterstützung bieten können, etwa bei der optischen Inspektion und Bewertung von Schäden auf der Bauteiloberfläche. Auf diesem Feld gibt es gerade sehr viel Bewegung in der Forschung, aber auch bereits in der Pilotanwendung, die allesamt sehr vielversprechende Ergebnisse liefern, so dass davon auszugehen ist, dass das Fachpersonal in der Bauwerksprüfung schon in sehr naher Zukunft wesentlich effizienter bei komplexen Begutachtungstatbeständen eingesetzt und von sehr zeitraubenden Standardaufgaben entlastet werden kann. Auch die Möglichkeiten, die sich aus sogenannten digitalen Zwillingen, d.h. einem digitalen Modell der realen Bauwerke, ergeben, welche man mit realen Daten aus der tatsächlichen Belastung füttert, werden in Zukunft deutlich bessere Prognosen zur verbleibenden zukünftigen Nutzung auch unter geänderten Randbedingungen, wie etwa gestiegenem Verkehr oder eingetretenen Schädigungen, erlauben, als es bisher möglich war. Mit diesen erheblich fokussierteren Ingenieurbetrachtungen wird es uns möglich sein, vorhandene Infrastruktur deutlich länger in der Nutzung zu halten und vor allem auch deutlich zielgerichteterer Investitionen in deren Reparatur und Verstärkung zu tätigen, als es bisher der Fall war. Und schlussendlich darf man auch, die von Ihnen angesprochenen Neuentwicklungen zu Schnellbausystemen in ihrer Wirkung nicht unterschätzen. Wenn man bedenkt, dass bestimmte neue Bausysteme, wie die sogenannte Lego-Brücke, es derzeit schon ermöglichen in wenigen Monaten oder gar Wochen eine ganze Brücke neu zu errichten, dann wird ziemlich schnell klar, dass wir auch bei Neubauten zukünftig hoffentlich häufiger von traditionellen Bauweisen wegkommen, die gut und gerne mal mehrere Jahre Bauzeit in Anspruch nehmen.
In diesem Kontext ist aber auch wieder die Politik mit klarer Richtungsentscheidung gefragt, die in anderen Ländern in Europa, wie etwa der Schweiz, bereits heute eine Umsetzung finden. Und zwar müssen wir endlich dahin kommen, dass die Staukosten sowohl in Form von Zeitverlust bei den Infrastrukturnutzen als auch in Form der erhöhten CO2-Emmission klar dem Verursacher, d.h. dem Bau der Infrastruktur zugeordnet und in die Wertung von Submissionsergebnissen eingerechnet werden. Es wäre unproblematisch, ein solches Kriterium in die Vergaberichtlinien einzuführen, und würde dazu führen, dass bisweilen vom Bauverfahren her deutlich schnellere aber etwas teurere Angebote dennoch Berücksichtigung in der Vergabe finden können. Man darf also gespannt sein, ob und wenn ja wann und wie die Politik das Pendel zu Gunsten von schnellen, verkehrsschonenden Bauverfahren und Systemlösungen umschwingen lässt.
 

3. Welche Lösungsansätze können ergriffen werden, um Deutschlands Infrastruktur zu sichern und langfristig zu schützen?

Prof. Bertram Kühn: Hier gibt es, meiner Meinung nach, eine sehr lange Liste von Möglichkeiten, was alles zu tun wäre, wovon einige Ansätze auch schon in den vorhergehenden Fragen angerissen wurden. Meiner Meinung nach ist das Wichtigste, dass hoffentlich schon sehr bald wirklich alle Betroffenen erkennen, wie wichtig das Thema Infrastruktur für uns alle und eine funktionierende, prosperierende Gesellschaft ist. Den Bürgerinnen und Bürgern muss klar sein, dass – auch wenn uns die Nutzung der Infrastruktur im Regelfall nichts kostet – diese aber nicht zum Null-Tarif zu haben ist, sondern im Gegenteil sogar ziemlich viel Geld kostet, wenn man diese instandhalten und ausbauen möchte. Die Politik muss verstehen, dass es sich am Ende des Tages böse rächt, wenn wichtige Verbindungsachsen wegen unzureichender Unterhaltung und ausgelassenen Reparaturen quasi über Nacht gesperrt werden müssen. Die bereits hinter uns liegenden Sperrungen von wichtigen Autobahnbrücken, wie der Rheinbrücke Leverkusen, der Salzbachtalbrücke bei Wiesbaden oder der Talbrücke Rahmede bei Lüdenscheid haben schon mehr als ausreichend aufgezeigt, wie weitreichend die Folgen für alle Teile der Gesellschaft sind, wenn Infrastruktur ungeplant nicht mehr funktioniert.

Der in meinen Augen wichtigste Faktor zur langfristigen Sicherung der Infrastruktur ist der Faktor gut ausgebildete Bauingenieur*innen, die neben den klassischen Handlungsfeldern auch Kompetenzen auf den neuen Gebieten der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz und der Nachhaltigkeit erlernen und diese zielgerichtet auf den Infrastrukturbestand umsetzen. Hier liegt eine große Chance, den weltweit hervorragenden Ruf des Ingenieurwesens in Deutschland nochmal neu zu erfinden und uns erneut an die Spitze zu setzen. Mögen die rein computer- und softwaretechnischen Entwicklungen hierbei auch in anderen Ländern dieser Welt schon einen Vorsprung haben, so ganz sicher nicht in der ingenieurtechnischen gezielt baupraktischen Anwendung dieser Systeme bei vielen verschiedenen Ingenieuraufgaben. Hierzu bedarf es Neugier und Mut. In meinen Vorlesungen und Seminaren erlebe ich tagtäglich junge Menschen, denen die großen Herausforderungen sehr wohl bewusst sind, die auf sie zukommen, die aber keineswegs resignieren oder abstumpfen. Im Gegenteil. Lässt man Ihnen die Freiheit, selbst neue Lösungsansätze zu denken, , denn erlebe ich regelmäßig großen Einsatz und enorme Kreativität in der Lösungsfindung. Dieses Potential muss sauber gehoben und intensiv gefördert werden. Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Ein Bachelorstudent von mir hat im Zuge seiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft in meinem Fachgebiet die einfache Frage gestellt, warum man eigentlich immer erst die Tragstruktur von alten Stahlkonstruktionen schädigen muss, um an die Information zu gelangen, um welchen alten Stahl es sich genau handelt, nur um damit dann die Weiternutzung dieses Tragwerks beurteilen zu können? Diese Frage konnte ich nur so beantworten, dass man bisher einfach noch keinen anderen Weg gefunden hat, um bei fehlenden Bestandsunterlagen und sonstigen Informationen den Altstahl zuverlässig identifizieren zu können. Diese Frage hat ihm und anderen Mitarbeitenden meines Teams sowie von einem hinzugezogenen Industriepartners keine Ruhe gelassen und keine zwei Jahre nach dem Stellen dieser Frage haben wir eine zerstörungsfreie Messmethode gefunden, die an zwei Pilotprojekten unter Aufsicht des Eisenbahn-Bundesamtes erprobt wurde. Man muss die jungen Menschen nur lassen, motivieren und richtig anleiten. Dann bekommen wir genau die Sorte Ingenieur*innen, die wir brauchen, um die richtigen Lösungsansätze zur langfristigen Sicherung unserer Infrastruktur zu finden.
 

4. Was müsste in Zukunft in den Fokus genommen werden?

Prof. Bertram Kühn: Bezogen auf die bestehende Infrastruktur müssen die Aspekte der Nachhaltigkeit deutlich stärker in den Fokus genommen werden. Um die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen und, salopp gesagt, auch unseren Kindern noch eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen, müssen wir in vielen Bereichen zu einem Umdenken kommen. Zwar gibt es bereits eine Reihe von entsprechenden Regelungen im Umweltschutz, aber was die Müllvermeidung und das Wertstoffrecycling auf Baustellen anbelangt, sind wir nicht nur in Deutschland, sondern im Grunde in nahezu allen sogenannten Industrienationen noch richtig schlecht. Und auch bei der Weiternutzung von bereits produzierten und bestehenden Baumaterialien gibt es noch jede Menge Luft nach oben. Beide Punkte haben aber einen gewaltigen Hebel, was die CO2-Emissionsvermeidung und die Ressourcenschonung und damit zwei der zentralen Punkte nachhaltiger Entwicklung anbelangt, da der Bausektor je nach Quelle einen hohen zweistelligen Anteil an der gesamten Abfallproduktion und der CO2-Emission in Deutschland hat. Hier ist es nach meiner Wahrnehmung leider so, dass wir zum Teil sogar erst noch die alten Strukturen in den Köpfen derjenigen aufbrechen müssen, die für die Lehre und Ausbildung der kommenden Ingenieurgeneration verantwortlich sind. Zwar sind mittlerweile in vielen Modulhandbüchern das Thema Nachhaltigkeit benannt und es gibt auch schon zahlreiche Weiterbildungsangebote in dieser Richtung, dennoch sollte dieses Thema richtig angegangen und mit handfesten Arbeitshilfen sowie konkreten Beispielen in die Baupraxis getragen werden. Wenn wir es also ernst damit meinen, brauchen wir jetzt ein Umdenken, handfeste Methoden und Handlungsleitfäden, wie man es zukünftig im Sinne der Nachhaltigkeit besser macht, sowie politische Entscheidungen, die nachhaltige Planungen und bauliche Umsetzungen klar bevorzugen. Lassen Sie mich nur eins noch zum Schluss sagen: Ich persönlich bin optimistisch, dass die großen Herausforderungen im Umgang mit unserer überalterten Infrastruktur gelöst werden können. Das Handwerkszeug dazu, nämlich einen gesunden Ingenieurverstand, der sich mehr an technischen Lösungen als an technischen Normen orientiert, haben wir in unserem Land, müssen diesen nur wieder etwas mehr in den Vordergrund und überängstlichste Kaufleute und Jurist*innen in den Hintergrund drängen. Gelingt uns das in die Köpfe der neuen Ingenieurgenerationen hineinzupflanzen und weiterzugeben, werden wir nicht nur die Herausforderungen in unserem Land meistern, sondern sehr wahrscheinlich auch erneut internationaler Spitzenreiter mit weltweit gefragtem Know-how werden.     

Über den Interviewpartner:

Prof. Dr.-Ing. Bertram Kühn leitet seit 2013 das Fachgebiet Stahl-, Verbund- und Brückenbau im Fachbereich Bau der Technischen Hochschule Mittelhessen. Vor seinem Ruf war er Prokurist und Abteilungsleiter Ingenieurbau im Ingenieurbüro Verheyen-Ingenieure GmbH & Co. KG in Bad Kreuznach. Im Rahmen dieser Tätigkeiten hat er 2008 die Anerkennung zum Prüfsachverständigen im Eisenbahnbau, Fachgebiet Stahlbau durch das Eisenbahn-Bundesamt erlangt. Neben diesen baupraktischen Tätigkeiten ist Prof. Kühn u.a. auch im Bereich der Bahnnormung und Forschung aktiv. Er hat als externer Berater sowohl an der jüngst veröffentlichten Fortschreibung der RiL 813 „Personenbahnhöfe planen, bauen, instandhalten“ als auch bei der in den Einzügen befindlichen Fortschreibung der RiL 805 „Bewertung bestehender Eisenbahnbrücken“ mitgewirkt. Eins seiner aktuellen Forschungsprojekte befasst sich mit einer KI-gestützten Prognose, wieviel wiederverwendbare Stahlbauteile, wo genau, zu welchem ungefähren Zeitpunkt verfügbar werden, um diese dem Stoffkreislauf zur Weiternutzung im Bausektor unmittelbar wieder zuführen zu können. Die Weitergabe seines Fachwissens und Initiierung sowie Förderung eines gesunden Ingenieurverstandes ist seine Profession und Berufung.