Die Führung ohne disziplinarische Weisungsbefugnis

Ein Plädoyer wider der Selbstverzwergung der fachlichen Führung

Die Key-Accounterin Caroline verantwortet Kundenprojekte im sechsstelligen Bereich. Und an David, dem Entwicklungsingenieur, hängt Erfolg und Misserfolg des ganzen neuen Kernproduktes. Frau Meyer warnt den Vorstandsvorsitzenden vor einem möglichen Compliance-Fehler. Hermann treibt alle Spesenrechnungen unternehmensweit ein. Und Lea verantwortet die Digitalisierung über alle Bereiche.

Was haben all diese Mitarbeitenden gemeinsam? Sie haben hohe Verantwortung, Einfluss und Bedeutung für das Unternehmen. Auch die Führungs- und Kontaktspanne ist nicht selten enorm. Was haben sie nicht? Sie haben keine Personalverantwortung. Sie haben nicht das, was man disziplinarische Weisungsbefugnis nennt.
 

Der zahnlose Tiger?

„Führung ohne Weisungsbefugnis“. Das klingt nach Ausnahme und Sonderfall. Das klingt nach „schon irgendwie Führung“, aber noch nicht so richtig.

Dabei gibt es inzwischen in vielen Unternehmen mehr Koordinierende, Projektleitende, fachliche Vorgesetzte, Scrummaster, Productowner und viele Führungskräfte mehr mit sehr ähnlichen Titeln als klassische Abteilungs- und Bereichsleitende. Das heißt, es gibt längst mehr Führungskräfte ohne disziplinarische Weisungsbefugnis als solche mit disziplinarischer. Somit sind es die Führungsmandate mit den personalrechtlichen Zuständigkeiten, die die Ausnahme darstellen.
 

Wir sind längst in einer neuen Welt

Die Ursache für die wachsende Bedeutung der fachlichen Führung ist klar. Unternehmen, die schneller und besser auf die Kundschaft reagieren möchte, brauchen mehr Selbststeuerung, mehr Augenhöhe, mehr Handlungsverantwortung, mehr laterale, horizontale Führung und weniger Hierarchie-Umwege, Abschottung und Silodenken.
 

Früher begann Führung mit Personen, heute beginnt sie mit Aufgaben

Aber in unserem Führungsverständnis und den damit verbundenen Begrifflichkeiten hängen wir noch Jahrzehnte hinterher. In der alten Welt der vertikalen Stellenorganigramme beginnt Führung immer noch mit der Übernahme von Personalverantwortung. In dieser Zeit gab es noch keine Trennung von fachlicher und personaler Führung. In der neuen Welt hingegen beginnt Führung mit der Aufgabe, an der viele beteiligt sind. Und diese Aufgaben gehen über Bereichs-, Abteilungs- und Teamgrenzen hinaus.
 

Es gibt keine weisungsbefugnisfreie Zone im Unternehmen

So gibt es immer weniger Führungskräfte, die über 100 Prozent der Zeit ihrer Teammitglieder verfügen. So gibt es kaum noch Menschen, die nur für eine einzige Führungskraft arbeiten. Die Weisungsbefugnis hat sich längst defragmentiert. Die Linien der Befugnis gehen kreuz und quer durch Unternehmen. Von links nach rechts, von unten nach oben und umgekehrt. Dabei braucht es für Übergabe von fachlicher Führung keine besonderen arbeitsrechtlichen oder juristischen Schritte. Eine einfache mündliche Willenserklärung genügt, um Verantwortung für eine Aufgabe und damit Weisungsbefugnis Dritten gegenüber zu vergeben bzw. anzunehmen.
 

Plädoyer für mehr Selbstbewusstsein und wider der Selbstverzwergung

Obwohl die neue fachliche, laterale Führung längst Kern der Organisation moderner Unternehmen ist, fühlen sich viele zu häufig immer noch als Noch-Nicht-So-Richtig-Führungskräfte, als Führungskräfte zweiter Klasse. Sie können nicht er- oder abmahnen, können nicht kündigen oder mal im Jahresgespräch eine schlechte Beurteilung vergeben. Wenn sie das alles dürften, hätte sie das Problem nicht – denken sie Dieser Irrtum führt zu einer früh angelegten und systematischen Führungsschwäche. „Was soll ich da tun? Da kann ich doch nichts machen. Ich bin doch nur sowas wie der Teamsprecher, nur der Teamkoordinator. Und nach oben eskalieren macht auch keinen guten Eindruck“. Solche Sätze sind dann Symptome einer nicht angenommenen Führungsverantwortung.
 

Die Führungskräfte kommen viel zu spät in den Genuss der Führungsseminare

Auch wenn der Seminartyp „Führung ohne Weisungsbefugnis“ neben „Vom Kollegen zum Chef“ der am häufigsten gebuchte Seminartyp ist, sind es immer noch viel zu viele, die ohne Vorbereitung in diese Führungsaufgaben gehen. Die erste fachliche Matrix- oder Projektführung sollte automatisch die Frage nach Ausbildung für diese schwierige Aufgabe aufwerfen und eben nicht erst bei der ersten Führungsrolle mit personalrechtlicher Verantwortung.

Die Formel „Führung ohne disziplinarische Weisungsbefugnis“ führt in die Irre. Jeder, der eine Aufgabe hat, deren Erfüllung von anderen abhängig ist, hat ein Führungsmandat – egal, wo er in der Hierarchie steht. In modernen Unternehmen trifft das auf fast alle Stellen zu. Sobald ich einen Führungsjob habe, gehört es auch zu meiner Verantwortung, die gesamte Bandbreite von Führungsaufgaben zu erfüllen. Ich würde meinen Job als fachliche Führungskraft nicht machen, wenn ich nicht klarstellen würde, was genau ich bis wann für die Joberfüllung brauche und wenn ich nicht nachfragen würde, was in der Kommunikation besser gemacht werden kann.
 

Wir sind alle Führungskräfte, sobald wir Verantwortung dafür bekommen, was andere tun

Sobald jemand mit einer Aufgabe Verantwortung erhält, trägt er auch die Weisungsbefugnis in Händen. Verantwortung und Entscheidungsbefugnis sind zwei untrennbare Zwillinge. Fachliche Führungskräfte können nicht früh genug anfangen, eine gesunde und sehr sachliche Auffassung und Haltung zu ihrem Auftrag, aber auch zu den Ressourcen zu entwickeln, die sie von außen brauchen, um diesen Auftrag zu erfüllen.

Fachliche Führungskräfte machen ihren Job nicht, wenn sie nicht ruhig, sachlich, offen und direkt sagen können: „Ich brauche von Ihnen XY, sonst kann ich meinen Job nicht machen“.  

Beispiel

Das gilt auch für meine Arbeit. Angenommen, ich würde ein Inhouse-Seminar in deinem Unternehmen geben. Dann bin ich nicht der Vorgesetzte der teilnehmenden Führungskräfte. Ich habe nicht einmal einen Arbeitsvertrag mit deinem Unternehmen und doch bin ich zwei Tage lang Leiter des Seminars, bestimme darüber, wann und wie lange die Pausen sind und mit welchen Übungen und Inhalten wir die gesetzten Ziele am besten erreichen. Und das passiert nicht, weil ich alles besser weiß und die vermeintlich bessere Persönlichkeit bin, sondern schlichtweg, weil ich das Mandat bekommen habe, um innerhalb von zwei Tagen alle Führungs- und Lernziele möglichst zu erreichen. Das kann ich aber nur machen, wenn die Teilnehmenden einigermaßen pünktlich sind und konstruktiv mitarbeiten. Wenn also nun ein Teilnehmende, aus welchen Gründen auch immer, das Seminar massiv stört, würde ich meinen Job als Führungskraft nicht machen, wenn ich dieses Verhalten dulden würde. Dann läge es in meiner Verantwortung, wenn dieses Seminar scheitert. Ich würde aber meinen Job ebenfalls nicht machen, wenn ich diese/n störende/n Teilnehmende/n öffentlich abmahne. Das geschieht nicht nur bei Meetings und Besprechungen, sondern auch sehr gerne in Mailverkehr mit vielen Dritten im CC. Es geht bei all dem nicht um den anderen und nicht um mich, sondern nur um den Auftrag, den ich unter diesen Bedingungen nicht erfüllen kann. Das Verhalten des/der Teilnehmenden kann darin begründet sein, dass das Thema, die Zeit oder einfach die momentane persönliche Verfassung nicht passt. So genügt es manchmal, die Rahmenbedingungen wieder herzustellen.

Aufgaben-Organigramme statt Stellen-Organigramme

Die fachliche Führung hinter Projekten ist die eigentliche Führung und die neue Norm. Wir sollten diese Art von Führung ernster nehmen und höher bewerten. Selbstverständlich ist das, was in Stellen-Organigrammen abgebildet wird, nämlich die personalrechtlichen Fragen, die Fragen der Strategie und der Orga, enorm wichtig. Aber ist das wirklich so viel wichtiger als für die richtigen Zahlen zu sorgen, die richtigen technischen Lösungen zu entwickeln, die Kundschaft zufrieden zu stellen, Leute auszubilden, Rahmenbedingungen herbeizuführen und so weiter? Führung ist längst auf sehr viele Schultern verteilt. Die Machtdistanzen sind geringer geworden, die Augenhöhe hat zugenommen und ohne hohen Grad an Selbststeuerung können wir weder schnell noch kundenorientiert genug sein.

Über den Autor:

Ulrich Grannemann, Leadion Unternehmensberater Grannemann & Partner, Langenfeld

Ulrich Grannemann ist Dipl. Kfm. und Naturwissenschaftler, Führungskraft und Unternehmer, Vordenker für Lösungen zum Thema Führung im digitalen Zeitalter, Autor von Artikeln und Büchern zum Thema Führung. Mit über 2.000 Führungsseminaren und Führungscoachings und mehr als 500 Veröffentlichungen in Artikeln und Büchern gehört er zu den erfahrensten Führungsexperten in Deutschland.