Was macht für Sie als Architekt*innen ein Rotorblatt zum spannenden Bauelement?
Marcin Orawiec: Das ästhetische Potenzial der Blätter, ihre Langlebigkeit, Korrosionsbeständigkeit, Leichtigkeit und Stabilität sind ein Mehrwert für die Bauwirtschaft! Mit dem Projekt rethink*rotor wollen wir den Ausweg aus dem Recycling-Dilemma unterstützen. Das Belassen der riesigen Blätter in der Anthroposphäre ermöglicht nicht nur eine signifikante Kohlendioxid-Reduktion, sondern ist durch die Weiterverwendung der kompletten Rotorblätter auch nachhaltiger als ihr stoffliches Recycling. Die Graue Energie in jedem Windrotorblatt und leider auch das Wissen, die Herstellungsleistung und das geniale Design sind endgültig verloren, wenn die Flügel nicht - auch in einer anderen Funktion – weiterverwendet werden. Im sektorenübergreifenden Reuse der Flügel verknüpft rethink*rotor kreative Energie, neue Technologien und Nachhaltigkeitsziele miteinander. Die komplexen Geometrien der Rotorblätter werden zwar durch die Formschönheit der Teile unterstützt, erfordern jedoch, um den Einsatz in den neuen Anwendungen zu garantieren, eine ganze Reihe kreativer und konstruktiver Ideen. Bei OX2architekten agieren wir transdisziplinär und auch die h_da vertritt einen integrativen Forschungsansatz – das sind die besten Voraussetzungen, um eigentlich branchenfremde "second life Anwendungen“ in die Bauwirtschaft zu integrieren. rethink*rotor liefert gestalterisch hochwertige, dennoch einfache Lösungen für die komplexe Aufgabe, den ausgedienten Rotorblättern im Bausektor ein “zweites Leben” zu ermöglichen.
Wie viele Projekte haben Sie bereits umgesetzt?
Marcin Orawiec: Es gibt noch keine realisierten Projekte. Das ist der Komplexität der Crossinnovation geschuldet, die auch Disziplinen wie Recht und Logistik einbeziehen muss. Zum Beispiel ist der Einsatz der umfunktionierten Rotorblätter von der Nähe zur Windenergieanlage, die rückgebaut werden soll, abhängig. Die Innovationsplattform rethink*rotor bereitet mit Unterstützung durch Kooperationspartner, Projekte in Offshore- und Onshore-Bereichen vor. Dabei soll, um aufwändige Transportwege zu minimieren, die Zweitverwendung in der Nähe des ursprünglichen Standortes der Windkraftanlage eingesetzt werden. Mitgedacht werden hierfür die Fügungen für die Komponenten, die mit Low-Tech Methoden zu realisieren sind.
Gab es bei einem von diesen Projekten besondere Herausforderungen, denen Sie sich stellen mussten?
Marcin Orawiec: Die aktuellen Herausforderungen sind:
- Das REUSE-Potenzial der Rotorblätter ist noch lange nicht ausgeschöpft, unser Wissen auf dem Gebiet muss sich erweitern.
- REHINK*ROTOR hat bereits eine gewisse internationale Wahrnehmung, sollte aber auf nationaler und regionaler Ebene sichtbar werden, um im Sinne der Nachhaltigkeit Kooperationspartner in Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft "vor Ort" zu gewinnen.
- Um Anreize bei den Unternehmen, die in der Windenergiebranche tätig sind, zu schaffen, dass diese bereits bei der Produktion und der wirtschaftlichen Nutzung der Windkraftanlagen an das „End of Live“ der Blätter zu denken, benötigt es einen gesellschaftlichen und politischen Konsens, der genau das einfordert. Eine sinnvolle und nachhaltige Nachnutzung müsste unterstützt und gefördert werden, wohingegen CO₂ und energieintensive Entsorgung wirtschaftlich unattraktiv sein und restriktiv behandelt werden sollte. Um das zu erreichen, ist noch sehr viel Aufklärung und Überzeugungsarbeit zu leisten.
Wie ordnen Sie rethink*rotor im Rahmen einer branchenübergreifenden Kreislaufwirtschaft ein?
Marcin Orawiec: Deutschland ist eines der führenden Industrieländer der Erde und daher auch Großverbraucher mineralischer Rohstoffe. Fast 90 Prozent aller in Deutschland verwendeten mineralischen Rohstoffe werden für die Produktion von Baustoffen eingesetzt, so dass dem ressourcenschonenden Bauen eine besonders große Bedeutung zukommt.
Gleichzeitig ist die Bauwirtschaft mit rund 229,4 Mio. Tonnen allein im Jahr 2020, Hauptverursacher (55,4 Prozent) des Brutto-Abfallaufkommens in Deutschland.
Während also die Baubranche einen enormen Materialbedarf hat, muss die Windenergiebranche mit ihrem wachsenden Müllproblem umgehen.
Allein in Deutschland fallen jedes Jahr 7500 ausgemusterte Rotorblätter an. Ihre Kunststoffmatrix kann nicht verformt werden. Der Materialcocktail der Flügel ist nur teilweise durch aufwändige, umweltschädliche Verfahren recyclefähig. Das geschieht nicht rückstandsfrei, weder CO₂-neutral, noch nachhaltig. Manche werden deshalb geschreddert und darin enthaltene Metallreste abgeschieden. Die übrigen Abfälle werden als Brennstoff oder Ersatzmittel in der Zementindustrie eingesetzt oder in kleinen Mengen in Müllverbrennungsanlagen verbrannt. Das ist Downcycling!
Eine enorme CO2-Einsparung bzw. CO2-Bindung lässt sich erzielen, wenn diese EoL-Rotorblätter in anderen Anwendungen weiterhin genutzt werden könnten (Repurpose). Angesichts der großen Materialvolumina kommen dafür vor allem Anwendungen im Bauwesen in Frage. Das Umfunktionieren der Rotorblätter zu konstruktiven Bauelementen senkt den primären Rohstoffbedarf der Bauwirtschaft, vermeidet Abfall und treibt Optimierungsprozesse in der Herstellung von Gebäuden und Infrastrukturbauten voran.