Bremssysteme für die Mikromobilität: Herausforderungen und Zukunftsperspektiven für elektrisch unterstützte Schwerlastenräder

Bildquelle: Deutsche Messe AG Hannover, https://www.next-mobility.de/mikromobilitaet-marktpotenzial-von-500-mrd-dollar-bis-2030-a-794955/ (links), https://fotos.emtb-news.de/p/46014?in=set (rechts)


Die Verkehrswende nimmt immer deutlichere Formen an. Während lange das Motto „größer, stärker, schneller“ den Verkehrssektor dominierte und Konflikte zwischen Autofahrern und Radfahrern eskalierten, setzen Städte nun verstärkt auf Mikromobilität. E-Bikes, E-Scooter und E-Cargobikes erobern den urbanen Raum, während Autospuren umgewidmet und Tempolimits eingeführt werden. [1] Ein wesentlicher Treiber dieses Wandels ist der boomende Güter- und Lieferverkehr: Im Jahr 2019 wurden 3,65 Milliarden Pakete verschickt, 2020 bereits 4,05 Milliarden, und bis 2027 wird ein Anstieg auf 4,9 Milliarden Sendungen prognostiziert [2]. Eine Studie des Beratungsunternehmens McKinsey und des World Economic Forum erwartet bis 2030 eine Zunahme der Last-Mile-Lieferungen um 78 % [3]. In diesem Kontext gewinnen E-Cargobikes zunehmend an Bedeutung. Sie ermöglichen eine platzsparende, leise und emissionsarme innerstädtische Logistik und könnten viele gewerbliche und private Transporte auf Kurzstrecken übernehmen. Auch der Nationale Radverkehrsplan 3.0 betont die Rolle des Fahrrads in der intelligenten City-Logistik. [4–6] Kommunen und Logistikunternehmen wie DHL, UPS und Schenker setzen zunehmend auf Lastenräder, um ihre Klimaziele zu erreichen und neue Geschäftschancen zu nutzen [7–10]. 

Parallel zum Zuwachs an E-Bikes hat sich die Zahl der Unfälle deutlich erhöht [11]. 2023 verunglückten 23.658 Menschen mit einem E-Bike – fast elfmal so viele wie 2014. Auch die Zahl der tödlichen Unfälle ist gestiegen: 2023 kamen 188 Pedelec-Nutzende ums Leben, während es 2014 noch 39 waren [11]. Ursachen sind vor allem die höheren Geschwindigkeiten und das höhere Gewicht im Vergleich zu herkömmlichen Fahrrädern. Mit dem verstärkten Einsatz von E-Cargobikes in der urbanen Logistik steigt ebenfalls die Unfallgefahr. Es kommt z. B. die zusätzliche Zuladung hinzu, wodurch auch die Anforderungen an die Teilsysteme im Antriebsstrang wie u. a. das Bremssystem zunehmen. Aktuell verfügbare Bremssysteme sind oft nicht ausreichend für die speziellen Belastungen von E-Cargobikes ausgelegt. Aufgrund der hohen Massen und ungleichmäßigen Lastverteilungen müssen die Bremsen besonders leistungsfähig sein und ein effektives Wärmemanagement aufweisen. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer hohen Langlebigkeit und geringen Wartungsanforderungen. Immer wieder mussten E-Bikes und E-Cargobikes wegen defekter Bremssysteme zurückgerufen werden. [12–14]

Die Entwicklung und Nutzung von E-Cargobikes erfordert mehr als nur technische Innovationen – es gilt, das gesamte sozio-technische System zu berücksichtigen. Der Fahrer spielt dabei eine zentrale Rolle. Menschliches Verhalten, individuelle Leistungsabgaben und die Anatomie des Fahrers beeinflussen das Gesamtsystem erheblich [15]. Daher müssen nicht nur technische Komponenten optimiert, sondern ebenfalls die Wechselwirkungen mit dem Restsystem und dem Fahrer verbessert werden.

Die Forschung zu Lastkollektiven für E-Cargobikes steckt noch in den Kinderschuhen [16]. Während die Automobilindustrie bereits umfassende Untersuchungen durchführt und auf eine große Anzahl von Felddaten zugreifen kann, gibt es für E-Cargobikes bisher nur begrenzte Studien. Bestehende Forschungsarbeiten nutzen reale Betriebsdaten und mathematische Modelle, um Belastungen unter verschiedenen Bedingungen zu analysieren [17–25]. Diese Methoden kommen jedoch hauptsächlich bei Pkw und klassischen Fahrrädern zum Einsatz. Im Bereich der E-Cargobikes fehlen spezialisierte Forschungsergebnisse, was die Entwicklung präziser und praxisrelevanter Lastkollektive erschwert. Normen und Standards für die Untersuchung der Lebensdauer von Bremssystemen von E-Cargobikes existieren hierzu außerdem nur in begrenzten Umfang. Dabei sind Lastkollektive ein entscheidender Bestandteil der Validierung [26, 27]. Sie ermöglichen die Ermittlung und Analyse von Belastungen bei der Konstruktion und dienen als Grundlage für die Berechnung der Bauteillebensdauer. Durch geeignete Zählverfahren kann die Schädigung eines Bauteils bestimmt werden, sei es durch Gewaltbruch, Ermüdungsbruch oder plastische Verformung [28]. Um diese Forschungslücken zu schließen, ist es essenziell, praxisnahe Lastkollektive für E-Cargobikes zu erforschen und in die Validierung zu überführen. Diese müssen sowohl die vielfältigen Einsatzszenarien als auch die spezifischen, anwendungsnahen Belastungen umfassend berücksichtigen. 

Das IPEK – Institut für Produktentwicklung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) analysiert hierzu die Anforderungen unterschiedlicher Kunden und Anwender basierend auf den recherchierten Use Cases. Zudem werden Nutzungsdaten erhoben und hinsichtlich Fahrzeiten, Reichweiten, Geschwindigkeitsprofile, Topographie sowie Brems- und Ladehäufigkeit ausgewertet. Zur Entwicklung praxisrelevanter Beanspruchungskollektive wurde ein Modell in Simulink erstellt. Dieses dient der Bremsenauslegung und der Festlegung von Leistungsdaten für Validierungsaufgaben. Gleichzeitig unterstützt es die Synthese relevanter Beanspruchungskollektive auf Basis der erhobenen Daten für die identifizierten Use Cases. Darüber hinaus wird eine Prüfumgebung für dreirädrige E-Cargobikes entwickelt. Diese ist nach dem IPEK-XiL-Ansatz [26] für verschiedene Ebenen des SuI (System-under-Investigation) auf dem Multi-Component-Prüfstand des IPEK entwickelt und implementiert. So wird zunächst die Untersuchung einzelner Scheibenbremsen als SuI ermöglicht. Darüber hinaus wird die Prüfumgebung kontinuierlich weiterentwickelt, um z. B. auch gesamtsystemisch die Kombination aus Bremssystemen für Vorder- und Hinterachse als SuI validieren zu können. Ein Teil der Entwicklung der Validierungsumgebung ist die Ableitung spezifischer Anforderungen aus vorhergehenden Markt- und Use-Case-Studien. Als Systembeispiel wird eine gängige Mountainbike Bremsscheibe aus Stahl sowie dem zugehörigen Bremssattel und gängigen organischen Bremsbelägen gewählt. Die Betätigung des Bremssattels erfolgt systembedingt über ein Hydrauliksystem, um eine realitätsnahe Simulation der Bremsvorgänge zu gewährleisten. Die Validierung der Umgebung wird in weiteren Forschungsarbeiten thematisiert. Erste Ergebnisse werden auf der VDI-Fachtagung „Kupplungs- und Bremssysteme für mobile und stationäre Anwendungen“ 2025 veröffentlicht. 

Die Forschungsarbeiten liefern wertvolle Lastkollektive, die eine anwendungsorientierte Validierung sowie eine gezielte Entwicklung von Bremssystemen unterstützen. Die entwickelte Validierungsumgebung ermöglicht es, praxisnahe Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen den Lastkollektiven und den Bremssystemen zu gewinnen. Diese Erkenntnisse fließen direkt in die Systementwicklung ein und tragen dazu bei, zukunftsweisende Bremssysteme speziell für die Anforderungen der Mikromobilität zu konzipieren. Dies fördert nicht nur die Sicherheit und Effizienz von E-Cargobikes, sondern trägt auch zur Nachhaltigkeit bei, indem Wartungsintervalle optimiert und der Einsatz im urbanen Raum weiter vorangetrieben werden.

Zu den Autoren:

Timo Hacker, M.Sc., Gruppenleiter der Forschungsgruppe Systemtribologie: Friktions- und Gleitsysteme, IPEK – Institut für Produktentwicklung, Karlsruhe 

Arne Bischofberger, M.Sc., Oberingenieur, Abteilungsleitung Antriebssystemtechnik und Systemtribologie: Friktions- und Gleitsysteme, IPEK – Institut für Produktentwicklung, Karlsruhe

Dipl.-Ing. Katharina Bause, Oberingenieurin, Abteilungsleitung Automatisierte und vernetzte Mobilität und Medizin- und Gesundheitstechnologie, IPEK – Institut für Produktentwicklung, Karlsruhe

Sascha Ott, Institutsleitung IPEK - Institut für Produktentwicklung, Geschäftsführer KIT-Zentrum Mobilitätssysteme, IPEK – Institut für Produktentwicklung, Karlsruhe

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Tobias Düser, Institutsleiter, Institutsleitung IPEK - Institut für Produktentwicklung, IPEK – Institut für Produktentwicklung, Karlsruhe

Quellen

[1] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, "Perspektiven für den Stadtverkehr der Zukunft," 2021.
[2] Bundesverband Paket und Expresslogistik e. V. (BIEK), KE-CONSULT Kurte&Esser GbR, "Perspektiven eröffnen, Gemeinschaft gestalten, KEP-Studie 2023 – Analyse des Marktes in Deutschland," Berlin, Köln 2023.
[3] T. Deloison et al., "The Future of the Last-Mile Ecosystem: Transition Roadmaps for Public- and Private-Sector Players," 2020.
[4] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), "Fahrradland Deutschland 2030 - Nationaler Radverkehrsplan 3.0," 2022.
[5] Freie und Hansestadt Hamburg - Behörde für Wirtschaft und Innovation, "Infrastrukturbedarf von Lastenrädern insbesondere für deren Einsatz in der Letzte-Meile-Logistik," 2021.
[6] E. Verlinghieri, I. Itova, N. Collignon und R. Aldred, "The Promise of Low-Carbon Freight: Benefits of cargo bikes in London," 2021.
[7] Deutsches Institut für Urbanistik. "Die Lastenradfreundliche Kommune." Zugriff am: 23. April 2024.
[8] Morgenpost Verlag GmbH, "Hamburg XXL-Lastenrad der DB ersetzt 7,5 Tonner Lkw," 2021. Zugriff am: 2. August 2024.
[9] ZIV – Die Fahrradindustrie, "Marktdaten Fahrräder und E-Bikes für 2023: in Kooperation mit dem VSF," 2024.
[10] M. Schelewsky, J. Steiner, H. Eberhardt, E. Niehaus und T. Weber, "Nutzung von Lastenrädern und Fahrradanhängern: Analyse der Hemmnis- und Förderfaktoren zur Nutzung von Lastenrädern und Fahrradanhängern im privaten Bereich," 2023.
[11] Statistisches Bundesamt, "Pedelec-Unfälle Verunglückte sind immer jünger," 2024. Zugriff am: 4. Juni 2024.
[12] Focus online, "Schlechte Bremsen E-Bikes und Lastenräder fallen durch Sicherheitstest," 2016. Zugriff am: 23. April 2024.
[13] I. Baur, "Rückruf mehrerer E-Bike-Modelle - Unfallgefahr durch Problem mit den Bremsen," 2023. Zugriff am: 23. April 2024.
[14] Robert Kühnen, "Have a Brake: Test I Scheibenbremsen," 2021.
[15] J. Kern, K. Wolter, K. Bause und S. Ott, "Development of a Validation Environment for a Hub Motor used in Light Mobility Solutions," in DSEC 2023 Drivetrain and Systems Engineering.
[16] Hazay Bikes, "Cargo Bike Rides Dataset," 2023.
[17] Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart, "Research in Motion: Lastkollektive," Zugriff am: 23. April 2024.
[18] K. Lucan, "Methodische Ermittlung von repräsentativen Lastkollektiven am Beispiel der Nutzfahrzeugbremse," Dissertation, Universität Stuttgart, 2021.
[19] C. Eckstein, "Ermittlung repräsentativer Lastkollektive von Ackerschleppern," Dissertation, Universität Kaiserslautern, 2017.
[20] H. Kossira und W. Reinke, "Die Erittlung von Lastkollektiven für die Bemessung von Segelflugzeugen," 1981.
[21] N. Petrone und G. Meneghetti, "Fatigue life prediction of lightweight electric moped frames after field load spectra collection and constant amplitude fatigue bench tests," International Journal of Fatigue, Jg. 127, S. 564–575, 2019.
[22] B. Ozmen, B. Altiok, A. Guzel, I. Kocyigit und S. Atamer, "A Novel Methodology with Testing and Simulation for the Durability of Leaf Springs Based on Measured Load Collectives," Procedia Engineering, Jg. 101, S. 363–371, 2015.
[23] S. Schmidt, T. Schmidt, S. Weigelt und L. Overmeyer, "Ermittlung und Analyse elektro-mechanischer Belastungskollektive an elektronischen Komponenten in Flurförderzeugen,"lj proc, 2010.
[24] S. Matthiesen, M. Dörr und S. Zimprich, "Testfallgenerierung - Vorgehen zur Lastkollektivermittlung durch Data Mining am Winkelschleifer," in Design for X - Proceedings of the 29th Symposium 2018, D. Krause, K. Paetzold und S. Wartzack, Hg., 2018, 295-306.
[25] S. Matthiesen, T. Gwosch, T. Schäfer, P. Dültgen, C. Pelshenke und H.-J. Gittel, "Experimentelle Ermittlung von Bauteilbelastungen eines Power Tool Antriebsstrangs durch indirektes Messen in realitätsnahen Anwendungen als ein Baustein in der Teilsystemvalidierung,"Forsch Ingenieurwes, Nr. 80, S. 17–27, 2016.
[26] A. Albers, M. Behrendt, S. Klingler und K. Matros, "Verifikation und Validierung im Produktentstehungsprozess," in Lindemann (Hg.) 2016 - Handbuch Produktentwicklung, S. 541–569.
[27] VDI 2206 Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme, Verein Deutscher Ingenieure, Berlin, 2004.
[28] M. Köhler, S. Jenne, K. Pötter und H. Zenner, Zählverfahren und Lastannahme in der Betriebsfestigkeit. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, 2012