Die Verkehrswende nimmt immer deutlichere Formen an. Während lange das Motto „größer, stärker, schneller“ den Verkehrssektor dominierte und Konflikte zwischen Autofahrern und Radfahrern eskalierten, setzen Städte nun verstärkt auf Mikromobilität. E-Bikes, E-Scooter und E-Cargobikes erobern den urbanen Raum, während Autospuren umgewidmet und Tempolimits eingeführt werden. [1] Ein wesentlicher Treiber dieses Wandels ist der boomende Güter- und Lieferverkehr: Im Jahr 2019 wurden 3,65 Milliarden Pakete verschickt, 2020 bereits 4,05 Milliarden, und bis 2027 wird ein Anstieg auf 4,9 Milliarden Sendungen prognostiziert [2]. Eine Studie des Beratungsunternehmens McKinsey und des World Economic Forum erwartet bis 2030 eine Zunahme der Last-Mile-Lieferungen um 78 % [3]. In diesem Kontext gewinnen E-Cargobikes zunehmend an Bedeutung. Sie ermöglichen eine platzsparende, leise und emissionsarme innerstädtische Logistik und könnten viele gewerbliche und private Transporte auf Kurzstrecken übernehmen. Auch der Nationale Radverkehrsplan 3.0 betont die Rolle des Fahrrads in der intelligenten City-Logistik. [4–6] Kommunen und Logistikunternehmen wie DHL, UPS und Schenker setzen zunehmend auf Lastenräder, um ihre Klimaziele zu erreichen und neue Geschäftschancen zu nutzen [7–10].
Parallel zum Zuwachs an E-Bikes hat sich die Zahl der Unfälle deutlich erhöht [11]. 2023 verunglückten 23.658 Menschen mit einem E-Bike – fast elfmal so viele wie 2014. Auch die Zahl der tödlichen Unfälle ist gestiegen: 2023 kamen 188 Pedelec-Nutzende ums Leben, während es 2014 noch 39 waren [11]. Ursachen sind vor allem die höheren Geschwindigkeiten und das höhere Gewicht im Vergleich zu herkömmlichen Fahrrädern. Mit dem verstärkten Einsatz von E-Cargobikes in der urbanen Logistik steigt ebenfalls die Unfallgefahr. Es kommt z. B. die zusätzliche Zuladung hinzu, wodurch auch die Anforderungen an die Teilsysteme im Antriebsstrang wie u. a. das Bremssystem zunehmen. Aktuell verfügbare Bremssysteme sind oft nicht ausreichend für die speziellen Belastungen von E-Cargobikes ausgelegt. Aufgrund der hohen Massen und ungleichmäßigen Lastverteilungen müssen die Bremsen besonders leistungsfähig sein und ein effektives Wärmemanagement aufweisen. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer hohen Langlebigkeit und geringen Wartungsanforderungen. Immer wieder mussten E-Bikes und E-Cargobikes wegen defekter Bremssysteme zurückgerufen werden. [12–14]
Die Entwicklung und Nutzung von E-Cargobikes erfordert mehr als nur technische Innovationen – es gilt, das gesamte sozio-technische System zu berücksichtigen. Der Fahrer spielt dabei eine zentrale Rolle. Menschliches Verhalten, individuelle Leistungsabgaben und die Anatomie des Fahrers beeinflussen das Gesamtsystem erheblich [15]. Daher müssen nicht nur technische Komponenten optimiert, sondern ebenfalls die Wechselwirkungen mit dem Restsystem und dem Fahrer verbessert werden.
Die Forschung zu Lastkollektiven für E-Cargobikes steckt noch in den Kinderschuhen [16]. Während die Automobilindustrie bereits umfassende Untersuchungen durchführt und auf eine große Anzahl von Felddaten zugreifen kann, gibt es für E-Cargobikes bisher nur begrenzte Studien. Bestehende Forschungsarbeiten nutzen reale Betriebsdaten und mathematische Modelle, um Belastungen unter verschiedenen Bedingungen zu analysieren [17–25]. Diese Methoden kommen jedoch hauptsächlich bei Pkw und klassischen Fahrrädern zum Einsatz. Im Bereich der E-Cargobikes fehlen spezialisierte Forschungsergebnisse, was die Entwicklung präziser und praxisrelevanter Lastkollektive erschwert. Normen und Standards für die Untersuchung der Lebensdauer von Bremssystemen von E-Cargobikes existieren hierzu außerdem nur in begrenzten Umfang. Dabei sind Lastkollektive ein entscheidender Bestandteil der Validierung [26, 27]. Sie ermöglichen die Ermittlung und Analyse von Belastungen bei der Konstruktion und dienen als Grundlage für die Berechnung der Bauteillebensdauer. Durch geeignete Zählverfahren kann die Schädigung eines Bauteils bestimmt werden, sei es durch Gewaltbruch, Ermüdungsbruch oder plastische Verformung [28]. Um diese Forschungslücken zu schließen, ist es essenziell, praxisnahe Lastkollektive für E-Cargobikes zu erforschen und in die Validierung zu überführen. Diese müssen sowohl die vielfältigen Einsatzszenarien als auch die spezifischen, anwendungsnahen Belastungen umfassend berücksichtigen.
Das IPEK – Institut für Produktentwicklung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) analysiert hierzu die Anforderungen unterschiedlicher Kunden und Anwender basierend auf den recherchierten Use Cases. Zudem werden Nutzungsdaten erhoben und hinsichtlich Fahrzeiten, Reichweiten, Geschwindigkeitsprofile, Topographie sowie Brems- und Ladehäufigkeit ausgewertet. Zur Entwicklung praxisrelevanter Beanspruchungskollektive wurde ein Modell in Simulink erstellt. Dieses dient der Bremsenauslegung und der Festlegung von Leistungsdaten für Validierungsaufgaben. Gleichzeitig unterstützt es die Synthese relevanter Beanspruchungskollektive auf Basis der erhobenen Daten für die identifizierten Use Cases. Darüber hinaus wird eine Prüfumgebung für dreirädrige E-Cargobikes entwickelt. Diese ist nach dem IPEK-XiL-Ansatz [26] für verschiedene Ebenen des SuI (System-under-Investigation) auf dem Multi-Component-Prüfstand des IPEK entwickelt und implementiert. So wird zunächst die Untersuchung einzelner Scheibenbremsen als SuI ermöglicht. Darüber hinaus wird die Prüfumgebung kontinuierlich weiterentwickelt, um z. B. auch gesamtsystemisch die Kombination aus Bremssystemen für Vorder- und Hinterachse als SuI validieren zu können. Ein Teil der Entwicklung der Validierungsumgebung ist die Ableitung spezifischer Anforderungen aus vorhergehenden Markt- und Use-Case-Studien. Als Systembeispiel wird eine gängige Mountainbike Bremsscheibe aus Stahl sowie dem zugehörigen Bremssattel und gängigen organischen Bremsbelägen gewählt. Die Betätigung des Bremssattels erfolgt systembedingt über ein Hydrauliksystem, um eine realitätsnahe Simulation der Bremsvorgänge zu gewährleisten. Die Validierung der Umgebung wird in weiteren Forschungsarbeiten thematisiert. Erste Ergebnisse werden auf der VDI-Fachtagung „Kupplungs- und Bremssysteme für mobile und stationäre Anwendungen“ 2025 veröffentlicht.
Die Forschungsarbeiten liefern wertvolle Lastkollektive, die eine anwendungsorientierte Validierung sowie eine gezielte Entwicklung von Bremssystemen unterstützen. Die entwickelte Validierungsumgebung ermöglicht es, praxisnahe Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen den Lastkollektiven und den Bremssystemen zu gewinnen. Diese Erkenntnisse fließen direkt in die Systementwicklung ein und tragen dazu bei, zukunftsweisende Bremssysteme speziell für die Anforderungen der Mikromobilität zu konzipieren. Dies fördert nicht nur die Sicherheit und Effizienz von E-Cargobikes, sondern trägt auch zur Nachhaltigkeit bei, indem Wartungsintervalle optimiert und der Einsatz im urbanen Raum weiter vorangetrieben werden.