Auf dem Weg von der Wissens- zur Lerngesellschaft
Als Hochschuldozent, Keynote-Speaker und gefragter Experte zu agilen Methoden kennt Prof. Dr. Ayelt Komus (Hochschule Koblenz) beide Seiten des Lernens: sowohl akademisch als auch berufsbegleitend. Im Interview schildert er, warum Wissen allein heute nicht mehr ausreicht und wie hybride Formen des Lernens in Zukunft aussehen können.
Warum reicht heute das vermittelte Wissen der Hochschulen nicht mehr aus?
Prof. Dr. Komus: Die Ansprüche an Lernen und Weiterbildung verändern sich rasant, Hochschulen alleine können diesen Bedarf gar nicht erfüllen. Ein wesentlicher Faktor dabei sind die Folgen der Digitalisierung und damit verbunden die Faktoren, welche die VUKA-Welt kennzeichnen: mehr Volatilität, eine höhere Geschwindigkeit, Unsicherheiten, Komplexität und Ambiguität. Aber auch Megathemen wie Globalisierung und Nachhaltigkeit sowie die aktuellen politischen Unsicherheiten spielen eine große Rolle. Lernkonzepte, wie wir sie noch vor zehn Jahren hatten, können vor diesem Hintergrund heute nicht mehr funktionieren.
Welche Rolle spielt Wissen in Zukunft?
Wissen stellt selbstverständlich die Basis für alles da. Aber mindestens ebenso wichtig ist die Fähigkeit, sich immer wieder neue Kompetenzen anzueignen und sich permanent weiterzuentwickeln. Man könnte es auch so sagen: Wir wandeln uns von der Wissensgesellschaft zu einer Lerngesellschaft. Dazu gehört eine Kultur des permanent sich Hinterfragens – das gilt für die einzelne Person ebenso wie für das Unternehmen als Organisation.
Was bedeutet das für Schule und Hochschule?
Der Weg zur Lerngesellschaft hat Auswirkungen auf alle Bereiche. Sowohl Schule als auch das gesamte Studium müssen sich vollkommen neu aufstellen. Entwicklungen wie die Differenzierung in Bachelor und Master tragen bereits seit einigen Jahren dazu bei, zu einer höheren Flexibilität zu gelangen. So können Studierende nach dem Bachelor-Abschluss beispielsweise zunächst Praxiserfahrungen sammeln und sich später um den Masterabschluss oder anderweitige Zusatzqualifizierungen bemühen. Derart flexible Möglichkeiten gab es zu meinen Studienzeiten noch nicht.
Eines will ich dazu noch betonen: Wissensvermittlung mit klaren Lernzielen wird in Zukunft weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung und des Studiums bleiben – auch wenn wir das didaktisch teils sicherlich noch geschickter machen können. Neben aller Metakompetenzen sollten wir nämlich nicht vergessen, dass auch ein Grundwissen beispielsweise in Mathematik die Basis für die Weiterentwicklung in Bereichen ist, die wir heute noch nicht kennen.
Für die Wissensvermittlung, die Hochschulen alleine nicht leisten können, stehen Anbieter wie das VDI Wissensforum bereit. Welche Bedeutung hat das berufsbegleitende Weiterbildungsangebot für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen?
Im berufsbegleitenden Lernen ergeben sich die vielleicht weitreichendsten Veränderungen. Den Begriff „Lebenslanges Lernen“ kannten wir schon vor 20, 30 Jahren. Allerdings ging es dabei meist nur um einzelne Qualifikationen oder beispielsweise ein Zertifikat, das man sich berufsbegleitend angeeignet hat – Stichwort Bildungsurlaub. Keine Frage, entsprechende Angebote wird und muss es auch in Zukunft geben, beispielsweise Abschlüsse als Scrum Master oder Zertifikatslehrgänge etwa in den Bereichen Projektmanagement oder Innovationsmanagement.
Ein wesentlicher Punkt verändert sich allerdings: Wir haben in Zukunft nicht mehr die strikte Trennung zwischen „arbeiten“ und „lernen“. Im Gegenteil, Lernen läuft heute permanent und hybrid. Die Vermittlung der Lerninhalte erfolgt kontextbezogen – das kann auch mal ein Erklärvideo, ein YouTube- oder sogar ein Tiktok-Clip sein. Soziale Netzwerke wie LinkedIn ermöglichen auch einen fachlichen Austausch; Formate wie „Working Out Loud“, in denen die Menschen in der Gruppe selber Lösungen erarbeiten, finden zunehmend Anwendung und werden von vielen Arbeitgebern bereits gefördert.
Anders gesagt: Die Formate und die Strukturen des Lernens in Unternehmen verändern sich rasant. Alles wird gemixt, Lernen wird enger mit der Arbeit verwoben. Die Lernformen und Formate werden bunter und vielfältiger, was wiederum neue Anforderungen an die Bildungsanbieter und das Management des Lernens stellt.
Wie kann ein gelungener Mix des hybriden Lernens aussehen?
Vorweg: Alles, was wir heute bewerten können, ist eine Momentaufnahme, die sich in kurzer Zeit schon wieder grundlegend anders darstellen wird. Klar ist aber: Die Möglichkeiten der fachlichen Vermittlung sind online an vielen Stellen einfach besser als offline – etwa mit interaktiven Möglichkeiten, bei der die Technik immer besser vielfältiger und schneller wird, oder Break-Out-Sessions. Allerdings bedarf es beim E-Learning einer wesentlich höheren Disziplin, um Ablenkungen wirksam auszublenden. Darüber hinaus werden persönliche Treffen aus meiner Sicht immer noch eine wichtige Rolle haben, solange wir das persönliche Netzwerken im Digitalen nicht weiter optimieren. Entscheidend ist am Ende des Tages der Mix und die intelligente Nutzung aller Lernmöglichkeiten und -formate.
Wie können sich in dieser hybriden Lernwelt Controlling, Lernkontrolle und individuelle Personalentwicklung positionieren?
Agile Methoden basieren auf dem Grundgedanken, dass ich nicht alles top-down komplett planen kann, sondern lediglich einen Rahmen vorgebe und darüber hinaus sehr viel Selbststeuerung für den Prozess zulasse und einfordere. Das gilt in Zukunft auch fürs Lernen: Personalentwickler sollten sich daher von der Illusion der Präzision und Eindeutigkeit von Kennzahlen verabschieden. Was nicht heißt, dass nicht mehr gemessen werden sollte.
Natürlich gibt es Bereiche, in denen es sinnvoll ist, Lernziele klar zu umreißen. Teils sind die Inhalte ja auch vorgeschrieben. Doch immer wichtiger werden die Lernparts, die sich nicht von vornherein klar präzisieren und definieren lassen.
Lernen, ohne vorher schon zu 100 Prozent zu wissen, was gelernt werden muss, rückt das Messen des Lernerfolgs auf eine höhere Ebene: Es geht um die Frage, wie die einzelne Person, aber auch gesamte Unternehmen mit ihren Kompetenzen, Stärken und Qualifikationen wahrgenommen werden. In diesem Zuge verändert sich auch die Rolle der Vorgesetzten und der Personalentwickler: Sie werden immer mehr zum Coach oder Sparringspartner.
Zu diesem Bereich der Kompetenzvermittlung bietet das VDI Wissensforum zahlreich, auch hybride Formate. Was sind aktuell auf Seiten der Arbeitnehmenden die größten Defizite und welche Fähigkeiten sollten sie mitbringen, um sich im dynamischen Arbeitsumfeld zurecht zu finden?
Ich spreche stets von fünf Schlüsselkompetenzen, die ich in der Digitalisierungs- und VUKA-Welt benötige:
- Technologie-Anwendungskompetenz
- Kreativitäts- und Innovationsfähigkeit
- Ein hohes Maß an Teamfähigkeit und sozialer Intelligenz
- Metakompetenzen wie Selbstmanagement, „Lernen lernen“, überhaupt zu erkennen, welche Kompetenzen notwendig sind
- Gut mit Unsicherheit und Veränderung leben zu können – sozusagen eine gute Balance des inneren Ich mit der Aufgabe zu finden.